Im letzten Eintrag lautet eine Textpassage: „Das, was wir uns nicht vorstellen können: Wie es wäre, die Freiheit nicht zu haben.“

Diese fehlende Vorstellung passt zu einem Zustand des Verfalls, verursacht durch Maßlosigkeiten in Lebensgewohnheiten und überkandidelten Ansprüchen. So etwas nennt man gewöhnlich Dekadenz.

Gleichzeitig macht sich das Gefühl von Furcht und Angst in den westlichen Wohlstandsgesellschaften breit: Angst in und vor zukünftigen Krisen in Zeiten großer Veränderungen und Unsicherheiten. Es ist die Angst, das Wohlstandsleben nicht weiterführen zu können.

Ein Klassiker der politischen Philosophie und ein wichtiger Text der Liberalismus-Theorie ist das Werk der bereits 1992 verstorbenen Judith Shklar. Titel der deutschen Übersetzung: Liberalismus der Furcht.

Judith Shklars Kernthese ist, dass Furcht die elementare, die Menschen am tiefsten berührende Form der Unfreiheit ist. Die schrecklichste Furcht ist die vor Grausamkeit, fundamental die körperliche Grausamkeit, die Folter. Gemeint sind aber auch die anderen Formen von Erniedrigung, Verachtung, und Demütigungen aller Art.

Jeglicher Gebrauch von Freiheit – wie immer man diese versteht – setzt Angstfreiheit voraus. Furcht und Angst sind die Repräsentanten der Unfreiheit in jedem einzelnen Menschen. Es herrscht Angst vor der Furcht, respektive Furcht vor der Angst.

Die Hauptbotschaft des verstorbenen russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny lautete: „Habt keine Angst!“ In Übersetzung: „Werdet frei in einem unfreien Staat!“ Und im Freiheitswunderland USA faselt der 45., vielleicht bald 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Blutbad gleichen Auseinandersetzungen. Ja, die Bürger der USA haben in diesem Jahr die (noch) freie (vielleicht letzte) Wahl.

Die Furcht vor Grausamkeit, das klingt einfach und wenig ambitioniert und könnte dazu verleiten, Shklars Freiheitsbegriff als radikale Form jener Negativen Freiheit – der Freiheit von etwas, etwa von staatlichen Zumutungen – zu verstehen, die sich unterscheidet von der Positiven Freiheit, der Freiheit zu etwas, etwa zur Selbstverwirklichung, zu politischer Gestaltung und zu den Selbstoptimierungen ohne Rücksicht auf andere.

Der negative Freiheitsbegriff ist gut sichtbar, gegenwärtig in den vulgären Formen eines Internet- und Pöbelliberalismus. Da werden dann alle Gemeinwohlzumutungen brüsk mit dem Verweis auf die individuelle Freiheit des Ichsweggebürstet, vom Tempolimit bis zum Impfen, vom Steuerzahlen bis zur Bekämpfung des Klimawandels.

Judith Shklars Freiheitsbegriff ist der Freiheitsbegriff der Stunde. Der Blick wandert dabei wahlweise westwärts über den Atlantik, aber vor allem ostwärts in Richtung asiatische Steppe. Und in naher, jedoch gut eingeübter Nabelschau vermehrt ins Gehirn-Hier und Herz-Zu Lande.