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Wie die Moral die Hassrede erfand – und der große Philosoph der Freiheit G.W.F. Hegel das alles schon vorwegnahm Früher sprach man ehrfürchtig von der „schönen Seele“. Heute heißen die daraus hervorgehenden Gestalten Influencer, posten Selfies im Gegenlicht und lassen sich für ihre moralische Reinheit feiern – bis sie im nächsten Shitstorm untergehen. Hegel hat sie schon vor 200 Jahren seziert, ganz ohne WLAN und Hashtag.

Warum wir an Social Media kleben wie Kaugummi unter dem Schuh Wir kennen die Symptome: Echokammern, Shitstorms, Fake News – eine Mischung aus Jahrmarkt und Pranger. Und doch scrollen wir weiter. Psychologen sagen „Dopamin“, Soziologen sagen „Narzissmus“, wir sagen: Vielleicht passiert gleich noch was Aufregendes. Es ist nicht nur Verführung – wir sehnen uns nach diesem Gift wie nach einer letzten Zigarette.

Die schöne Seele – das Original-Influencer-Profil Schiller schwärmte 1793 von der schönen Seele, die Pflicht und Neigung vereint. Goethe machte daraus jemanden, der sich lieber ins Innere zurückzieht, statt draußen mitzumischen. Hegel, Jahre später vermerkte: Diese Leute messen die Welt an ihrem Gefühl. Die Handlung? Nebensache. Hauptsache, die Absicht ist rein. So kann man moralisch überlegen sein, ohne jemals aufzustehen – eine Haltung, die in der Timeline glänzend funktioniert.

Influencer: Selfie mit moralischem Filter Die schöne Seele von heute streamt live aus dem eigenen Herzen. Ihre Posts sind „authentisch“ – was im Netz ein Gütesiegel ist, das jede Recherche ersetzt. Ein wackliges Handyvideo aus dem Krisengebiet schlägt jede seriöse Meldung, insbesondere der Öffentlich-Rechtlichen-Medien, solange es uns das Gefühl gibt, dabei zu sein. Fakten sind nur störendes Beiwerk, wenn das Herz schon entschieden hat.

Tugendsignalisierung – Taten aus zweiter Hand Im digitalen Moraltheater zählt, was man sagt (oder teilt), nicht, was man tut. Ein Hashtag ersetzt die Demo, ein Retweet die Debatte. Worte wiegen so schwer wie Taten – praktisch für alle, die keine Taten vorweisen können.

Das Tribunal der Beurteilenden Hegel beschreibt sie meisterhaft: Menschen, die jedes falsche Wort wittern wie Spürhunde – und das in der Hoffnung, den nächsten Sünder öffentlich zu grillen. Von „Links“ heißt das Cancel Culture, von „Rechts“ Lügenpresse. Die Methode ist identisch: Wer nicht spurt, wird mit einem warmen Eimer Empörung übergossen.

Heuchelei als Sportart Die Beurteilenden vergessen dabei gern, dass sie selbst nur einen Post entfernt sind vom eigenen Shitstorm. Trotzdem wird weiter gefahndet nach Triggerworten, falschem Tonfall oder fehlender Betroffenheit. Wer nach einer Tragödie nicht binnen 30 Sekunden seine Fassungslosigkeit postet, ist verdächtig.

Hegels rettender Trick: Verzeihen Es gibt Hoffnung: Erstens, die schöne Seele (Neusprech: Der eigene Ego-Tunnel) merkt irgendwann, dass ihr Perfektionismus sie handlungsunfähig macht – während skrupellose Typen die Welt umbauen. Zweitens, die Social Media Richter und Vollstrecker begreifen, dass Verzeihen (Neusprech: das in Handlung zu übersetzende Empathievermögen) nicht nur – im ursprünglichen Wortsinn – naiv ist, sondern ihnen selbst Erleichterung verschafft. Dann kann die Versöhnung greifen – und plötzlich wird aus dem Ich ein Wir.

Heute: schwer, aber nicht unmöglich Soziale Medien sind nicht gebaut für Versöhnung, sondern für Krawall. Aber wir könnten sie zweckentfremden: weniger Selbstgerechtigkeit, mehr Solidarität. Weniger Likes, stattdessen ein passender Textkommentar. Geschenkt: old school – passt aber zur vorherrschenden Geschichtsvergessenheit. Und mehr Aufmerksamkeit für gemeinsames Handeln. Oder, kurz gesagt: Lasst uns damit aufhören, einander in moralische Einzelteile zu zerlegen – dann könnten wir vielleicht wieder ganz Mensch sein.

Da capo: Eine kurze Bühnenbegegnung zwischen Hegel, Cancel Culture und X

Ort: Ein öffentlicher Park.

Bühne: Links sitzt Hegel auf einer Bank, dicke Bücher neben sich, die er bei Gelegenheit wie ein Orakel aufschlägt. Rechts: X – nervös wippend, Smartphone in der Hand, alle drei Sekunden ein neues Selfie. Dazwischen: Cancel Culture, in schwarzem Mantel, mit Notizblock, immer bereit für den nächsten Eintrag.

X (aufgeregt): „Hast du gesehen, Hegel? Mein neuer Thread! 30.000 Likes in einer Stunde. Ich habe mich gegen Ungerechtigkeit ausgesprochen.

Hegel (trocken): „Und was hast du getan?“

X: „Na… gepostet.“

Cancel Culture (schreibt mit): „Anmerkung: Keine klare Handlung, aber die richtige Gesinnung. Vorerst positiv.“

Hegel: „Aha. Deine schöne Seele lebt also noch. Damals zog sie sich in die Innerlichkeit zurück, heute lädt sie ihre Gefühle hoch. Gleiches Prinzip, nur mit WLAN.“

X: „Ich bin authentisch! Ich fühle, also bin ich.“

Hegel: „Du fühlst – also bist du der Maßstab für alle. Das Problem: Wer nicht fühlt wie du, ist verdächtig.“

Cancel Culture (hebt den Kopf): „Stimmt. Letzte Woche ein Fall: Jemand (oder ein Niemand) postete nach einer Tragödie nichts. Verdacht auf Gefühllosigkeit. Verdachtsmoment ausreichend für digitalen Pranger.“

X: „Das war stark von dir!“

Hegel: „Stark? Ihr seid wie ein Chor moralischer Richter, die einander beklatschen, bis einer falsch singt – dann stürzt ihr euch auf ihn.“

Cancel Culture: „Wir nennen das: Konsequenz.“

Hegel: „Ich nenne es: Heuchelei. Ihr wollt Reinheit, habt aber schmutzige Hände – nur seht ihr es nicht, weil ihr ständig andere wascht.“

Twitter (beleidigt): „Und was schlägst du vor, oh weiser Bartträger?“

Hegel: „Verzeihen. Die schöne Seele muss lernen, dass ihre reine Absicht nichts wert ist, wenn sie sich nicht im Handeln bewährt. Die Beurteilenden müssen verstehen, dass Gnade nicht nur für den anderen, sondern auch für sich selbst heilsam ist.“

Cancel Culture (skeptisch): „Verzeihen klickt nicht so gut wie Empörung.“

Hegel: „Mag sein. Aber Empörung allein baut keine Welt – sie reißt nur ab. Probiert’s mit Solidarität statt Selbstinszenierung. Dann wird aus dem Ich vielleicht wieder ein Wir.“

Kurze Stille. X tippt. Cancel Culture guckt. Hegel schließt das Buch.

X (nachdenklich): „Hashtag… #Verzeihen?“

Cancel Culture (murmelnd): „Könnte Trend werden. Aber nur, wenn es ordentlich empört klingt.“    Licht aus!