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In einem vielfältig europäischen Land pflegt man seit Zeiten die hohe Kunst des Kompromisses. Konsens- und Koalitionsdemokratie sind die Begriffe, welche die Politikwissenschaft verwendet. Neuerdings jedoch wird es schwieriger zu sagen, wer hier eigentlich Mehrheit ist und wer Minderheit. Die Rollen verschwimmen. Manche nennen es „Gesellschaftlichen Wandel“, andere „Ver-Unordnung der Dinge“

Nehmen wir die Schulen: Früher hing dort selbstverständlich ein Kruzifix an der Wand – nicht, weil jeder fromm war, sondern weil man es eben so machte. Kürzlich – in der schnelllebigen Zeit relativieren sich Begriffspaare wie kürzlich / damals – reichte schon das Kopftuch einer Lehrerin, um eine Elternkonferenz einzuberufen. „Gleichbehandlung!“ ruft die eine Seite. „Dann bitte auch keine Kreuze, keine Kippot, keine tibetischen Gebetsfahnen.“ Zack – alle religiösen Symbole raus, damit niemand beleidigt ist. Das ist die moderne Gleichheitslogik: Wenn einer kein Schälchen Brei bekommt, müssen alle hungern.

Interessanterweise gilt dieses Prinzip nicht überall. Alteingesessene Minderheiten, nennen wir sie die Nachfahren der „Trümmerfrauen“, genießen Privilegien, nennen wir diese Zuwendung liebevoll „Mütterrente“. Historische Verwurzelung wiegt hier eben schwerer. Und siehe da: Kein Sturm der Empörung. Offenbar ist Ungleichheit erträglicher, wenn sie wie der Agrardiesel nach Heimat riecht.

Was ist nun mit der Mehrheit? Gibt es diese noch, wenn rund ein Drittel der Bevölkerung nicht im Land geboren ist? Global betrachtet ist das eine Ausnahmesituation – denn die UNO bestätigt unbestechlich: Nur wenige Staaten haben derart hohe Einwanderungsraten. Kein Wunder also, dass die Kulturfrage mittlerweile mit Samthandschuhen angefasst wird – aus Angst, sich die Finger zu verbrennen.

Das Problem ist nicht nur das Kopftuch, das Niqab, das Hidschab, die Burka oder ganz allgemein das „Tuch“, sondern inzwischen auch Würste. Ja, Würste. Wenn auf Schulausflügen gebeten wird, die traditionelle Grillwurst wegzulassen, um Halal-Fleisch nicht zu „kontaminieren“, verstehen viele das weniger als Frage der Kulinarik, vielmehr des kulturellen Unterschiedes: Unsere Gewohnheiten sollen Platz machen. Dabei will kaum jemand anderen das Grillrecht absprechen – nur das Gefühl, dass die Spielregeln ständig verschoben werden, kratzt an den Nerven und den politischen Umfrageergebnissen. Und wer die Spielregeln immer weiter verschiebt, darf sich nicht wundern, wenn irgendwann niemand mehr mitspielt oder wie ein blinder Maulwurf alles in Frage stellt. (Fußnote: Blind, weil an Fakten desinteressiert, folglich desinformiert; Maul, weil „dicke Fresse“; Wurf, weil vor Wut um sich werfend.)

Soziologen erklären das Integrationsparadoxon: Je besser Migranten integriert sind, desto mehr wollen sie mitreden, etwas, das objektiv eine Selbstverständlichkeit ist. Andere wiederum meinen: Die Mehrheit hat aber das Recht, ihre angestammten kulturellen Leitplanken zu setzen – so wie Minderheiten ihre schützenden Sonderregeln haben. Der Gedanke, dass auch die Mehrheit zur aktuellen Lage des Landes Minderheitenschutz brauchen könnte, klingt paradox. Aber paradoxe Zeiten bringen paradoxe Rechte hervor.

Denn Druck kommt nicht nur von Zuwanderung, sondern auch von der global-US geprägten Popkultur, die beispielhaft durch Konsum von Netflix, Spotify, xHamster und noch fettigerem Fastfood daherkommt. In manchen Städten wird man schon angesprochen, als sei man in einem Londoner Vorort gestrandet. Die Verwaltung reagiert brav –  zweisprachige Ansagen, englische Broschüren, internationale Beschilderung. Nett gemeint, aber am Ende wird man das eigene Guten Tag nur noch aus dem Heimatmuseum kennen, wenn die vormalige Muttersprache nur noch als erste oder zweite Fremdsprache an den Schulen zur Auswahl steht. Sozusagen eingehegt zwischen den Idiomen des Wilden Westens und des Nahen Ostens. Was wiederum folgerichtig ist, auch die Kinder der deutschen Natives sehen sich gerne in der Mitte, im Mittelpunkt jeder, auch der übergriffigsten Aufmerksamkeitserwartung, so wie ihre Eltern sich als Nabel der Welt fühlen. Beide Altersgruppen familiär verbunden und ausgestattet mit grenzenlosem Anspruchsdenken, generationsübergreifend die Finger nicht „in die Wunde“, viel lieber an eine +130 km/h PS-Lenkradsäule gelegt. Sehr selbstgewiss im Geiste, mit Nationalgenen eines Ferdinand Porsche oder Carl Benz sonderausgestattet zu sein.

Gefährlich wird es, wenn kulturelle Anpassungen im Namen der Rücksichtnahme beginnen, die eigenen Rechtsgrundlagen zu untergraben – etwa, wenn religiös geprägte Schlichtungsgremien geduldet werden, deren Urteile zwar nicht rechtskräftig sind, aber de facto gesellschaftliche Normen verschieben. Die Mehrheit schweigt oft – aus Höflichkeit oder Bequemlichkeit. Beides sind keine guten Überlebensstrategien.

Dabei wünschen sich viele neuzugezogene Menschen aus anderen Ländern gerade keine Sonderbehandlung, sondern klare, verlässliche Verhaltensregeln, anhand sie wissen, woran sie sind – und nicht Anything Goes-Gehabe. Ironischerweise sind es häufig Gut Mensch Aktivisten ohne Migrationshintergrund, die auf maximale Anpassung der Einheimischen pochen. Das Volk selbst reagiert oft gelassener als erwartet – solange es nicht das Gefühl hat, dass seine eigenen Traditionen heimlich ausradiert werden. Heimlich versteht sich, weil es dann weniger weh tun soll.

Demokratien unter Dauerbeschuss stehen also vor einer merkwürdigen Aufgabe. Minderheitenschutz für alle – auch für die Mehrheit. So(nst) findet man sich bald in der Situation, dass jeder eine Minderheit ist, niemand mehr eine Mehrheit – und alle gemeinsam ratlos vor der Waage stehen. Auf der einen Schale das Kreuz, auf der Seite gegenüber ein „Stück Tuch“. Nur dass dann niemand mehr weiß, welches schwerer wiegt, trotz erster Eingebung, dass es doch das christliche Symbol sein müsste. Am Ende des Tages bleibt die Waage leer – weil man alles heruntergenommen hat, damit sich niemand benachteiligt fühlt. Wer aber eine leere Waage für gerecht hält, hat nur vergessen, dass dann auch nichts mehr ins Gewicht fällt.