Weihnachten steht vor der Tür. Vom Christlichen Abendland geprägt, ob wir das/ „An Ihn“ glauben oder nicht. Der Verstand redet und widerredet, wer auch nur wenig emotionsflexibel ist, wird in diesen Vortagen melancholisch gestimmt, auch in Erinnerungen versetzt. Mehr Zeit ist vorhanden – ein Geschenk. In den Körpern und den Gliedern, Adventszeit ist fiebrige Zeit, wurde vielleicht kräftig aufgeräumt, Viren- Bakterien- und anderes Erkältungsgewese erfolgreich verstoßen. Ran an staubangesetzte Wandregale. Eine sich aus dem Staub gemachte CD inklusive beigelegtem Zeitungsausschnitt: seit „Alle Jahre Wieder“ nicht gehört! Eine akustische Wunderkerze in diesen letzten Stunden des Jahres!
„Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, so heißt es. „Never send to know for whom the bell tolls, it tolls for thee”, schrieb der englische Lyriker John Donne. Ernest Hemingway stellte diese Zeilen seinem Roman voran: “Wem die Stunde schlägt“. Und nun hält Charlie Haden mit seinem Quartet West dagegen: „Now ist the Hour“. Ist er deshalb unglücklich? Oder gar out of time?
Was da schlägt, das zeigen schon die ersten Takte: die Stunde des humanized jazz, des bewußten Innehaltens im Scherbenhaufen der Moderne. Quartet West präsentiert: Freud und Leid der Welt in 59 Minuten und 40 Sekunden. Im Jahre 1959, als 22jähriger, hatte der Bassist Charlie Haden seinen musikalischen Weg im Umfeld des Saxophonisten Ornette Coleman gefunden. In einer traumhaften Karriere wirkte er an etwa 400 Plattenaufnahmen mit. Keith Jarrett, John Scofield, Bill Frisell, Paul Motian, Egberto Gismonti, Carla Bley, Pat Metheny – seine Ilustre Gesellschaft. Und dann, 1986, die Gründung des Quartet West: Reminiszenzen an das Amerika der vierziger Jahre. „Now Is The Hour“ ist die vierte Platte.
Schon die Orchestereinleitung zum ersten Stück „Here’s Looking At You“ verströmt eine Atmosphäre, wie sie für Hollywood-Filme dieser Zeit typisch ist. Wenn Ernie Watts dann die Melodie auf dem Saxofon bläst, scheint er in einem riesigen Westküstenclub mit Streamline-Ästhetik auf der Bühne zu stehen, während draußen unterm Sternenhimmel Lauren Bacall in wehender Garderobe einer großen Limousine entsteigt: Das ist Sehnsucht nach der Eleganz eines erfüllten Lebens, die da erklingt, nach Glück und Harmonie statt Stress und Therapie.
Charlie Haden spielt hier den Bass ganz schlicht, schlägt nur den Puls der Zeit. Für die Lebendigkeit im Rhythmus sorgt sein Schlagzeuger Larance Marable. Sanft, aber stetig und bestimmt werden die Zuhörer in die Szene geführt – willkommen im Club!
Doch dann: Victor Youngs „The Left Hand Of God” – kein Glamour-Sound, sondern eher ein orchestriertes Kinderlied in sakraler Stimmung, wie alle Streicherstücke auf der Platte arrangiert und dirigiert vom Pianisten des Quartet West, Alan Broadbent. Da lehnt der Clubbesucher plötzlich regungslos am Tresen, in sich gekehrt, gedankenverloren, und lauscht den Tönen, die Charlie Haden tief unter dem Orchester fließen lässt. Auf seinem Vuilliume-Bass von 1840 ersinnt er Improvisationen, von denen der Zuhörer glaubt, sie im gleichen Moment selbst zu erfinden – einen seltene Art von Übereinstimmung.
Haden spielt sparsam, als sei ihm jeder Ton heilig, über ihm die Streicher wie ein Schwarm Fische, darunter er in atemberaubender Langsamkeit. Er nimmt sich alle Zeit der Welt, um durch sein Instrument einzelne Töne manchmal sogar in Farbe und Textur wie auf einem Bild sichtbar zu machen. So bringt er das Publikum zu sich selbst und damit in die neunziger Jahre zurück. Nach viereinhalb Minuten Bass und Streichorchester setzt das Quartett ein, ungebrochen, fast naiv – aber so nah am Herzen der Zuhörer, wie es derzeit kaum ein anderes Ensemble vermag.
Charlie Haden glaubt an die positive Wirkung von Musik. Im Booklet zur CD zitiert er Luis Buñuel: „Unsere Fantasie und unsere Träume dringen fortwährend in unsere Erinnerungen ein, und weil wir alle glauben, dass unsere Fantasie real sei, verwandeln wir letztendlich unsere Lügen in Wahrheit. Sowohl Einbildung als auch Wirklichkeit sind persönlich und werden auf gleiche Weise erlebt, so dass es unerheblich ist, sie miteinander zu verwechseln.“ Ein Trick, um sich nicht mit dem Jazz nach dem Jazz auseinandersetzen zu müssen?
Im Hintergrund stöhnt leis‘ die Avantgarde: Furchtbar, die Leute, es reicht ihnen schon, wenn etwas schön ist, um es gut zu finden.“ Ulrich Paasch in DIE ZEIT vom 22.März 1996: Charlie Haden Quartet West: Now Is The Hour