Man könne genug aus der Geschichte lernen, um die Zukunft aus der Gegenwart abzuleiten, so der Autor Y.N. Harari.
Die AfD wird sich nie bundesweit durchsetzen, behauptet der britische Germanist James Hawes: Weil der Osten politisch anders tickt. Seine These bemüht die deutsche Geschichte.
Für Hawes ist es ein geographischer Bezugspunkt, es ist die Elbe, welche für Hawes eine Art deutsche Trennlinie darstellt. Westlich davon liegt das traditionelle, weitgehend katholische deutsche Kerngebiet, das durch die Ostgrenze des Römischen Reiches definiert war, östlich von dem Fluss jetzt die neuen Bundesländer (und die Gebiete, die heute Teile Polens sind).
Diese waren im Mittelalter deutsche Kolonien. Die Kolonisierung begann mit dem Kreuzzug im 12. Jahrhundert bzw. mit der Gründung des Deutschordensstaates. Es war eine feindliche Übernahme von Gebieten jenseits des Heiligen Römischen Reiches, welche von Slawen bewohnt waren. Diese Art von Siedlerkolonialismus brachte automatisch ein autoritäres Staatsgefüge mit sich. Die neuen Eliten waren sich immer bewusst, dass sie unter denen lebten, die sie kolonisiert hatten und die deshalb eine Bedrohung waren. Man musste jederzeit bereit sein, mit Mitteln der Gewalt vorzugehen.
Der deutsch-slawische Konflikt wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu belebt und er bleibt bis heute mental bestimmend. Er überschattet und erfasst das Leben der heute dort lebenden Ostdeutschen. Eine Identitäts- und Mentalitätsgeschichte, die über Generationen und Jahrhunderte fortwirkt!
Wenn man in den preußischen Verwaltungsakten des 19. Jahrhunderts schaut, ging es dort immer wieder um die „Polnische Frage“, die Germanisierung Polens. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die DDR eine russische Kolonie. Man musste Russisch lernen, so wie die Polen vor dem Ersten Weltkrieg Deutsch lernen mussten.
Seit den Tagen Friedrich II des Großen, des alten Fritz, gab es für Preußen immer nur zwei Optionen: Mit den Russen muss man sich vertragen oder man muss sie ein für alle Male besiegen. Schon 1887, als Russland schwach wirkte, sprach sich der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow, der damals Botschaftsrat in St. Petersburg war, für einen Krieg gegen Russland und einen Vorstoß bis an die Wolga aus. In der Gegenwart wirkt Wladimir Putin für viele stark und bedrohlich, deshalb greift die alternative Taktik: Beschwichtigung.
Die unterschiedlichen Prioritäten des westlichen und östlichen Teils haben sich immer wieder als Nachteil für Deutschland erwiesen. Im Ersten Weltkrieg hatten zum Beispiel die westlichen Wirtschaftseliten ein Ziel, nämlich die Schwächung des britischen Empire. Und die Junker im Osten ein anderes, nämlich den Sieg über Russland. General Erich von Ludendorff, der aus Posen stammte wie sein landsmannschaftliches Pendant, Oberbefehlshaber Hindenburg, hätte 1918 ohne Weiteres eine Vereinbarung mit Russland aushandeln können. Er wollte aber in die Ukraine und bis zum Baltikum und St. Petersburg vorstoßen. Das war unterm Strich fatal, denn aufgrund dieser Offensive fehlten dann den Deutschen beim Eingriff der Amerikaner an der Westfront die nötigen Truppen. Aber als Mitglieder der preußischen Elite waren Ludendorff und Hindenburg auf Russland fixiert.
Schlüsselereignis der deutschen Geschichte war die Preußische Huldigung vom 10. April 1525 gewesen, bei der Albrecht, der zum Protestantismus konvertierte Großmeister des Deutschen Ordens, dem polnischen König den Lehenseid schwor und so Preußen zu einem vom Heiligen Römischen Reich unabhängigen Herzogtum machte.
Die Gründung und spätere Dominanz Preußens waren Deutschlands Schicksal. So wie heute ein AFD-Durchmarsch ein politisches Beben aus der östlichen Steppe gleichkäme? Alle negativen Assoziationen, die man lange im Ausland mit Deutschland verband, Mensur Schmisse, Knobelbecher, Stechschritt – das war und ist ein Erbe des protestantischen Preußen. Das, was wir als deutsche Geschichte bezeichnen, die Zeit zwischen 1871 und 1945, ist nicht deutsche, sondern preußische Geschichte.
Die preußische Herrschaft im katholischen Rheinland und Westfalen nach dem Wiener Kongress von 1815 wurde auch dort zunächst als koloniale Übernahme empfunden. Hier und heute: In der westfälische Stadt Münster hat die AFD bei Wahlen regelmäßig ihr bundesweit schlechtestes Ergebnis. Die Briten dachten damals irrtümlicherweise, dass Preußen, das sie mehr oder weniger als Anhängsel Russlands betrachteten, mit der Bindung ans Rheinland „verwestlicht“ und dieser katholische Teil Deutschlands zugleich protestantisch werden würde. So wie man nach der Wende 1989/90 annahm, die Bevölkerung der östlichen Bundesländer würden mit fortschreitender Zeit schon integrierbare West-Atlantiker und keine westlichen Werte-Skeptiker werden.
Die Konfessionsspaltung in Deutschland war und ist trotz fortschreitender Säkularisierung ein Symptom der west-östlichen Spaltung, sie ist nicht ihre Ursache. Nie war es in erster Linie eine Frage der Theologie, sondern eine der Identität. Einem katholischen Bauern waren die Glaubensvorschriften weniger wichtig als die Frage, von wo er stammte, und was seine konfessionelle Kultur war. Eine an einem Ort und zugleich in einem supranationalen Konstrukt wurzelnde Identität. Ein katholische Glaubenszentrum wie „Rom“ fehlte dem Osten. Die Protest-Tanten im Osten, anders als die „Omas gegen rechts“ im Westen sind stets und vor allem Deutsche, die sich über den Gegensatz von „Wir“ und „Die Anderen“ bis in die Gegenwart hinein definieren. Freund-Feind-Denken: DIE Denkfigur autoritärer Herrschaft. Und der aktuelle AFD-Populismus versteht es, diese Bedürfnisse mit großem Geschick zu bedienen und die ostdeutsche Mentalität zu instrumentalisieren.