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Es gibt Dinge, die altern mit Würde. Manche Glossen tun das sogar anonym. Seit einem Menschenleben lang, 80 Jahre, erscheint auf Seite 1 der Süddeutschen Zeitung das Streiflicht – eine tägliche Miniatur, geschrieben von Menschen, die angeblich keiner kennt und doch jeder verdächtigt. Ein literarischer Tarnkappenbomber, der im Tiefflug den Alltag streift – und dabei stilistisch häufiger die Hochkultur touchiert als das Kabarett.

Ursprünglich als Gemeinschaftsleistung verkauft – irgendwo zwischen Redaktionskonferenz, Schwarmintelligenz und Kaffeeautomaten-Erleuchtung – weiß heute jeder Streiflichtautor (m/w/d), dass er in Wahrheit allein mit seinem Text ringt. Am Schreibtisch. Vor leerem Bildschirm. Mit wachsender Panik. Und der sanften Drohung des Redakteurs: „Wäre schön, wenn’s bald da wäre.“

Dabei verlangt niemand Ernst. Aber doch bitte Ernsthaftigkeit. Oder wenigstens ein bisschen intellektuelle Gewitztheit. „Kein Humor ohne Substanz“, lautete einmal der ungeschriebene Leitsatz – zumindest bis zur Phase des „Witzzwangs“, wie ein SZ-Autor grimmig befand: Das Streiflicht, so sein Befund, gleiche bisweilen einem Papierflugzeug – unbemannt, leicht, und völlig bedeutungslos.

Kritik dieser Art nimmt man im Streiflichtteam angeblich gelassen. Schließlich hat auch Marcel Reich-Ranicki diese Glosse einst gelobt – oder jedenfalls die Vorgänger  in der Frühphase dieser Rubrik. Wahrscheinlich hat er das in einer halben Sekunde mehr durchdacht als andere ihre Lebenswerke.

Ironie, dieses zarte Spurenelement des gehobenen Journalismus, ist inzwischen allerdings nur noch in Schutzanzügen zugelassen. Wer sie zu großzügig verwendet, muss nachsitzen – oder Heinrich Heine auswendig lernen. Denn Ironie ist gefährlich: Nicht nur versteht sie keiner mehr, schlimmer noch – jeder fühlt sich von ihr gemeint. Kabarettisten, Facebook-Titanen und Altintellektuelle berufen sich auf sie wie einst Kreuzritter auf den Heiligen Geist. Das Ergebnis: Verbrannte Erde. Und Shitstorms.

Dabei ist das Streiflicht kein Ort für laute Meinungen oder missionarische Selbstverwirklichung. Es lebt vom Nebensächlichen. Nicht der Stille Ozean ist Thema, sondern der linke Schuh, der dort anders treibt als der rechte. Und wie viele Fußballfelder ins Saarland passen? 359.901. Aber wichtig ist nur: In jedes davon passen 48.275 Streiflichter. Das ergibt exakt 17 Milliarden. Bitte nachrechnen.

Und wer schreibt das alles? Menschen, die nie genannt werden. Einige sind längst im Stand der Ruhe, andere scheinen es innerlich zu sein. Wieder andere kämpfen sich täglich durch Tiktok, The Guardian und Billerbecker Anzeiger auf der verzweifelten Suche nach dem Thema, das sich in letzter Sekunde, wie eine charmante Erscheinung, verbeugt und sagt: „Na, wie wär’s mit uns beiden?“

Das Streiflicht ist das Andorra des Feuilletons. Ein eigener Staat, klein, stilvoll, bedeutend. Das reicht. Für heute.