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Hineinlesen zur Nacht in einen Klassiker – seit Tagen meine Bettlektüre: Bevor es Selfies gab, gab es Selbst-Erkenntnis. Lange vor Instagram-Posts und #me, in einer Zeit, in der man noch mit der Seele statt mit einer Bezahlschranke arbeitete, schrieb ein gewisser Aurelius Augustinus seine „Confessiones“. Nicht, um Likes zu sammeln, sondern um sich selbst zu verstehen – und „Gott“, jenen großen Zuhörer, der nie unterbricht, nie scrollt, nie weg swiped.
Augustinus erfand – ohne es zu ahnen – die europäische Autobiographie. Doch mehr noch: Er erfand den inneren Dialog als Erkenntnismethode. Kein bloßes Tagebuch, kein egozentrischer Monolog, sondern ein geistiger Disput mit einem imaginierten, zugleich überlegenen Gegenüber. Dieses Gegenüber? Gott. Oder, für die Zweifler unter uns: ein innerer Mentor, ein ewiger Supervisor, der klüger ist als unser Ich, aber geduldig zuhört, bis wir selbst begreifen, was uns bewegt.
Denn so funktioniert Selbsterkenntnis bei Augustinus: nicht durch rückblickende Aneinanderreihung von Anekdoten, sondern durch tastende Selbstbefragung im Zwiegespräch. Und siehe da: Der innere Dialog verlangt Disziplin, sprachliche Sorgfalt, Schönheit im Ausdruck. Man spricht schließlich nicht mit dem Freund an der Theke, sondern mit einer Instanz, vor der sich selbst der eigene Stolz nicht verstecken kann.
Diese Form der „sprechenden Selbsterkundung“ ist mehr als fromme Übung – sie ist Schreibschule, Erkenntnispraxis und Charakterformung zugleich. Die Worte müssen tragen, dürfen nicht bluffen. Denn wer sich vor dem „inneren Ich“ rechtfertigt, muss nicht nur ehrlich, sondern auch klar und schön sprechen. Das ist anstrengend. Und das ist gut so. Augustinus nannte das „innere Ich“ Gott, für jeden anderen und zudem für ihn war das „innere Ich“ so gar nicht das gemeine (schlechte) Gewissen, sondern etwas wesentlich „Höheres“.
Man muss Augustinus nicht gläubig lesen, um aus ihm zu lernen. Seine „Bekenntnisse“ sind keine Dogmatik, sondern Seelentext, der uns lehrt: Wer zu sich selbst vordringen will, braucht ein Gegenüber – sei es göttlich, sei es imaginär. Die große Pointe: Vielleicht erfinden wir den Gott, der uns zuhört, nur deshalb, weil wir ihn brauchen, um endlich zu uns selbst zu sprechen.
Kurz: Wer neugierig auf sich selbst ist, sollte Augustinus lesen. Nicht als Heiliger, sondern als Pionier der Innerlichkeit. Denn seine „Bekenntnisse“ sind nichts anderes als das älteste Podcast-Skript der Welt – nur eben ohne Mikrofon, dafür mit maximaler Tiefe.