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Cäcilie M., ein Pseudonym – der Name: Anna von Lieben. Vor 125 Jahren, am 31. Oktober 1900 ist Anna von Lieben gestorben. Vor 13 Tagen hat das „Zeitzeichen“ (Radio: WDR) an diese für den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud so wichtige Patientin erinnert.
Ein Mehrwert der Psychoanalyse besteht unter anderem darin, dass man außer sich ist!, #hysterisch . Oder genauer, mit Hilfe des psychoanalytischen Gegenüber neben sich gestellt wird. Es gelingt, sich von außen betrachten zu können. Die Außenperspektive hilft, sich selbst besser zu begreifen. Dieses „Sich von außen sehen“ ist entscheidend. Damit werden Dinge objektiviert, die aus der Binnenperspektive, aus dem subjektiven „Ego-Tunnel“ heraus nicht gesehen werden können. (Ausnahmen sind jene Menschen, die bei dem Aufruf „Narziss“ die Hälse strecken und die Hände heben.) Man kennt das vielleicht: Das Betrachten von eigenen Bildern, insbesondere beim Schauen bewegter Bilder. „Das bin doch nicht Ich“, ein nicht selten geäußerter Kommentar zum eigenen Erscheinungsbild. Die aufgezeichnet eigene Stimme ist ein weiteres Beispiel.
Anna von Lieben lebte in einer Zeit, in der Männer über Frauen bestimmten. Und es eine Krankheitsbezeichnung gab, die Hysterie genannt wurde. Eine Zuschreibung von Männern für Frauen. Eine Krankheit, die Männer für Frauen erfunden hatten, um die Herrschaft und Verfügbarkeit von Männern über Frauen rationale Legitimationen zu verschaffen.
Krankheitsdiagnose Hysterie. Eine Krankheit, die Frauen schon seit der Antike zugeschrieben wurden. Zu Beginn steht der Begriff hsystera (Gebärmutter). Es ist die Annahme, dass eine Gebärmutter, die nicht regelmäßig mit männlichem Samen versorgt wird, suchend durch den Körper wandere und bis hinauf ins Gehirn für Unruhe sorge. Eine Absurdität nur dann, wenn die Konsequenzen nicht die übelsten Auswirkungen für die Frauen gehabt hätten, zum Vorteil des anderen Geschlechts. (Donald Trumps Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. ist ein aktueller „Gebärmutterirrwegler“ – nicht dumm, nicht inkompetent. Es geht allein und einzig um die absolute Durchsetzung von Machtinteressen.)
Frauen zeigten nicht selten körperliche und seelische Verletzungen. In der Zeit von Anna von Lieben wurde bei vielen Frauen Hysterie diagnostiziert, weil sie sich gesellschaftlichen Normen nicht beugen wollten. Und wenn Frauen die patriarchisch definierten Grenzen von Weiblichkeit überschritten, dann folgte der Pranger und die krankhaft als Hysterie gebrandmarkte Unterstellung. Ein Konstrukt von Männern, um Frauen zu beurteilen, die sie ganz einfach nicht verstehen, nicht verstehen konnten und wollten. Für die Frauen bedeutetet es „lediglich“, dass sie widerständig waren. Eine Frage von Macht und Ohnmacht. Deswegen sind so viele unglücklich und krank geworden: Nicht gesehen, nicht gehört, nicht wahrgenommen!
Anna von Lieben kam auf Umwegen zu Sigmund Freud. „Ich habe bei Frau ‚Cäcilie M.‘ die verschlungensten Knoten zu lösen gehabt.“, notierte Sigmund Freud Jahre später. Aber damals ist er noch ein junger Neurologe ganz am Anfang seiner Karriere. Es ist die Frühphase in der Entwicklung der Psychoanalyse.
Wie gelangt man zu den tieferen Schichten der Psyche, dorthin wo das Unbewusste verborgen ist (Cäcilie = die Verborgene), das uns beeinflusst, das wir aber nicht beherrschen können? Die Patientin Anna von Lieben, „Cecilie M.“ ein von Freud benutzter Deckname.
Freud lässt sich in den Sitzungen mit Anna auf die Umkehr der Machtverhältnisse ein! Er, der Arzt hört einfach mal zu. Die Patientin spricht, teilt sich mit und befreit sich wortwörtlich per Wort. Freud schenkt seiner Patientin das Gehör und nicht vorauseilend sein medizinisches Fachlatein. Es ist die Patientin, nicht der Arzt, die unbewusst weiß, was sie bewusst nicht weiß, nämlich woran sie leidet. Diese Umkehr der Machtverhältnisse ist neu und zu jener Zeit methodisch einzigartig. Eine nicht sofort fremdverursachte Intervention und kein von äußeren Zwängen verursachtes Unterbrechen der Wortbekundungen. Die Aussprache wird nicht verwehrt. Mitteilungen, die endlich Gehör finden. Patienten, die Alles und Jedes mitteilen, was gerade an Ideen, Vorstellungen in die Köpfe kommt. Sich selbst nicht sofort beurteilen, und von anderen nicht beurteilt zu werden, was unterm Strich – wenn das nicht hier fehlt – einer (Selbst)verurteilung gleichgekommt.
Kunst der Rhetorik ist die Kunst der Rede. Sie spielte bereits in der griechischen Antike eine herausragende Rolle und war als eine dem Sport gleichwertige Disziplin bekannt. Zeit für eine Kunst des Zuhörens. Davon nächste Woche mehr.