Beitragsbild: pixabay_©_lizenzfrei

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wird häufig darüber gesprochen, dass Deutschland in mancher Hinsicht noch immer in Ost und West geteilt ist,  vor allem in politischer Hinsicht und im Wahlverhalten. Eine aktuelle archäogenetische Studie, veröffentlicht im Fachjournal Nature, macht nun deutlich: Diese Unterschiede reichen tiefer als gedacht – bis in die genetische Vergangenheit. Das Ergebnis ist aus wissenschaftlicher Hinsicht eine Erkenntnis, aus politischer Hinsicht ein Paradoxon – sind die Ergebnisse der AFD doch eine eindeutige Folge des jüngsten Migrationsgeschehens. Und aus unterhaltsamer Hinsicht schon auch eine echte Lachnummer.

Ein halbes Jahrhunderttausend Geschichte im Erbgut

Das Forscherteam um den Archäogenetiker Joscha Gretzinger vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig untersuchte mehr als 550 Skelette aus dem Zeitraum zwischen dem 3. und 13. Jahrhundert. Ergebnis: Die Bevölkerung östlich von Elbe und Saale weist bis heute rund 50 Prozent slawische Wurzeln auf. In Westdeutschland dagegen liegt dieser Anteil deutlich niedriger – bei weniger als zehn Prozent.

Grund dafür ist eine groß angelegte Migrationsbewegung im 7. und 8. Jahrhundert. Damals wanderten Menschen aus den Regionen des heutigen Belarus und der Zentralukraine nach Westen und besiedelten weite Teile des heutigen Ostdeutschlands.

Slawische Siedler als prägende Kraft

Die Studie zeigt: Diese Migration war kein militärischer Eroberungszug, sondern ein komplexer, vielschichtiger Prozess. Die Zuwanderer führten flexible Gesellschaftsstrukturen ein, die auf Großfamilien beruhten. Männer blieben meist im Dorf, Töchter heirateten in Nachbarorte. So entstanden stabile Gemeinschaften, in denen viele Kinder geboren wurden – ein Hinweis darauf, dass die Lebensbedingungen günstig waren.

Im Gegensatz zu früheren Annahmen verdrängten die Slawen die ansässige Bevölkerung nicht, sondern besiedelten Gebiete, die nach dem Zerfall des Thüringer Reichs nur dünn bewohnt waren. Sie hinterließen nicht nur kulturelle Spuren, sondern auch eine tiefgreifende genetische Prägung.

Ein Mosaik statt einer homogenen Gruppe

Die Anthropologin Zuzana Hofmanová, Mitautorin der Studie, betont: Die slawische Expansion war kein einheitliches Ereignis. Vielmehr handelte es sich um verschiedene Gruppen, die jeweils eigene Wege der Integration fanden. Damit wird deutlich: Schon damals gab es nicht „die eine“ slawische Identität, sondern ein vielfältiges Mosaik von Gemeinschaften.

Besonders sichtbar sind diese Wurzeln bis heute in der sorbischen Minderheit in Brandenburg und Sachsen. Dort beträgt der Anteil slawischen Erbguts rund 90 Prozent – deutlich mehr als bei der übrigen ostdeutschen Bevölkerung.

Migration als Konstante europäischer Geschichte

Die Untersuchung zeigt, wie eng europäische Geschichte und Migration miteinander verbunden sind. Europa, so machen die Daten klar, ist das Ergebnis zahlreicher Wanderungsbewegungen über Jahrhunderte hinweg. Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, spielen in dieser langen historischen Perspektive nur eine nachgeordnete Rolle.

Ob Slawen, Germanen, Franken oder später deutschsprachige Siedler im Mittelalter – alle haben dazu beigetragen, dass die Bevölkerung Mitteleuropas so vielfältig zusammengesetzt ist, wie sie sich heute präsentiert.

Fazit

Die Archäogenetik verdeutlicht, dass Migration kein Ausnahmezustand, sondern ein grundlegendes Prinzip europäischer Geschichte ist. Gerade am Beispiel Ostdeutschlands wird sichtbar, dass die kulturelle und genetische Prägung ganzer Regionen ohne Migration nicht denkbar wäre. Wer heute über Unterschiede zwischen Ost und West spricht, sollte diese historische Dimension berücksichtigen: Sie erinnert daran, dass Vielfalt und Durchmischung von Anfang an Teil des deutschen Erbes waren.