Unsere Demokratie braucht eine Revolution. Das ist die Meinung der Historikerin Hedwig Richter und des „Zeit“ Journalisten Bernd Ulrich, Autoren des soeben erschienen Buches „Demokratie und Revolution“.

Die Menschen in westlichen Gesellschaften sind dekadent geworden, so heißt es in dem Buch. Ausgestattet mit vielen Privilegien, werden diese als gottgegeben wahrgenommen, im Gefolge bequemer Lebenshaltung. Wo es um die Verantwortung der Folgen eines Lebensstils gehe, der nun durch krisenhafte Umstände gefährdet sei, da werde das als ein ungerechter Freiheitsentzug verstanden und empfunden. Viele Menschen würden sich von all den äußeren Verantwortung einholenden Umständen provoziert fühlen und als Folge dessen von verantwortungsloser innerer Unruhe ergriffen.

Nun, die Leute protestieren gegen die Klimawende, die Agrarwende, die Energiewende, die Verkehrswende. Entscheidungsträger vor allem in der Politik, die Veränderungen anmahnen, werden diffamiert. Dem Populisten hingegen, der Bestand verspricht, den Verstand versimpelt, dem wird Glauben geschenkt, dem gehört das Ohr und die Stimme. Bliebe doch alles beim Alten, dann sei auch alles wieder in die alte Ordnung gekehrt. Diese Einstellung sei zwar einerseits emotional nachvollziehbar, andererseits aber sachlich falsch, so heißt es im Buch.

Am 22. April wäre Immanuel Kant 300 Jahre alt geworden. Seine Überlegungen sind über 200 Jahre in der Welt. Auch Immanuel Kant spricht von der Notwendigkeit einer Revolution. In moralischer Hinsicht neigen wir alle dazu, für uns selbst Regelverstöße zu tolerieren. Die Lüge zum eigenen Vorteil und zum Nachteil anderer, wenn uns die Wahrheit schädlich scheint. Die Flugreise zum Nachteil der Umwelt trotz schlechten Gewissens. Die Aufzählung kleiner und großer moralischer Verfehlungen ließe sich problemlos fortführen. Wir wählen den eigenen Vorteil, nicht das moralisch Angemessene.

Richtig und falsch – Kants philosophisches Interesse galt nicht der Suche nach dem Guten im Menschen. Als Mensch aus Fleisch und Blut wusste er nur zu gut (!), der Mensch ist weder das eine noch das andere. Der Mensch sei sowohl mit guten als auch mit schlechten Eigenschaften ausgestattet. Unterm Strich sind Menschen moralisch verderbte Egoisten, die sich und andere über ihre selbstsüchtigen Motive täuschen. Auch neigen sie dazu, politische Ämter für eigene Zwecke zu benutzen. Kant machte sich keinerlei Illusionen über den moralischen und sozialen Charakter des Menschen. Deshalb Kants Forderung als Realist: Eine „Revolution der Gesinnung“ – eine Umkehrung der Gewichtung zwischen Eigeninteresse und Moral. Das sei weder gut noch richtig weder schlecht noch falsch, sondern einfach vernünftig.

Denn selbstverständlich dürfe der Mensch sich auch weiterhin ums eigene Wohlbefinden kümmern. Unter einem vernünftigen Maßstab des Tuns und eines Geweses auf die Art, dass das Handeln des Einzelnen gleichzeitig Allgemeingültigkeit aufweist. Dieser Maxime läge kein „Müssen“ in Unfreiheit zugrunde, sondern vielmehr ein „Wollen Können“. Wollen können: Eine menschliche Fähigkeit, die uns, weil mit Verstand ausgestattet, unterscheide von anderen Lebensformen on earth and everywhere. Nicht idealistisch, aber sicher anspruchsvoll ist das sicherlich. Gleichzeitig bescheiden, da es dem einzelnen Menschen die Wahl lässt, Möglichkeiten zu ergreifen oder nicht.

Vernünftiges Handeln ist für Kant somit ein Handeln in Freiheit und ermögliche auch weitere Freiheitsräume. Kants „Revolution der Gesinnung“ ist unter anderen eine Voraussetzung für die in der Regel nur durch Mühen und Grabenkämpfe erreichbare demokratische Konstitution von Staaten. Die Demokratien nannte Kant in Voraussicht Republiken, zu seinen Lebzeiten gab es sie noch nicht. „Demokratie“ wieder in Gefahr und Verruf zu bringen, kommt nach kantscher Begrifflichkeit einem konterrevolutionären Unterfangen gleich. Eine geschichtsphilosophische Vorstellung lautet, ein Schritt zurück, zwei voraus. Optimistisch sein und bleiben.