Beitragsbild: pixabay_©_lizenzfrei
Das neue Rentenpaket der Bundesregierung sorgt besonders bei jüngeren Menschen für Aufregung. Und das verständlicherweise. Schließlich betrifft es ihre Zukunft, ihre finanzielle Planung, ihre Lebensentwürfe. Doch bei aller Diskussion um Planungssicherheit und Nachhaltigkeit fällt eines auf: Wir betrachten die Zukunft heute mit einer beinahe religiösen Ehrfurcht, während Vergangenheit und Gegenwart immer mehr an Wert verlieren.
Wenn man Alter nicht an den Jahren misst, die man bereits gelebt hat, sondern an denen, die einem wahrscheinlich noch bleiben, dann bin ich ein älterer Mensch. Vielleicht ist es deshalb natürlich, dass ich mich zunehmend für Geschichte interessiere: Die Beschäftigung mit den zum Abschluss gekommenen Lebenswegen (un)bekannter Persönlichkeiten macht das eigene, näher rückende Lebensziel erträglicher. Denn auch für sie, ob berühmt oder weniger bedeutend, gilt die triviale Gedankentiefe eines Blaise Pascal: „Zum Schluss schüttet man ein bisschen Erde auf uns, und alles ist für immer beendet.“ Doch, während der Anteil älterer Menschen wächst, scheint ihr gesellschaftlicher Wert paradoxerweise zu sinken. Und genau hier beginnt ein ernstes Problem – eines, das weit über Rentenfragen hinausgeht.
Wir tun uns schwer mit alten Menschen. Oft wollen wir nicht einmal sehen, dass sie existieren. Wir schaffen Orte, an denen sie unter sich bleiben sollen – Pflegeheime, Seniorenzentren, abgeschlossene Bereiche. Orte, an die wir sie abschieben, damit die Welt der Jüngeren ungestört weiterlaufen kann. Viele vertreten heute selbstverständlich die Meinung, das Leben eines Kindes oder jungen Menschen sei grundsätzlich wertvoller als das eines alten. Aber wenn wir das akzeptieren, werten wir dann nicht bewusst das tatsächlich gelebte Leben ab?
Frühere Kulturen beurteilten den Wert eines Menschen danach, wie er gelebt hatte: seine Taten, seine Verdienste, seine Haltung. Selbst bürgerliche Ehrbarkeit musste man sich ein Leben lang immer wieder neu verdienen. Doch gerade der bürgerliche Anstand fällt gerade bei den Jüngeren, der sogenannten Generation Z nicht in deren Möglichkeitshorizont. Ihr tatsächlicher Weitblick ist der in der Rolle von Konsumenten, nicht von Bürgern, die Einstellung fast ausschließlich am Konsum orientiert. Man lausche nur ihren Gesprächen und Urteilsvermögen an Generationen übergreifenden Festtafeln: Nicht der russische Bär vor dem eigenen Haus – im Schlepptau sein gelbfetthaariger Knecht Ruprecht – ist ein Thema, sondern der steilzahnseidigste Unisex-Viskose-Stringtanga auf’m Ballermann-Boulevard auf Malle.
Ein Bürger ist sich seinen gesellschaftlichen Rechten und Pflichten bewusst. Hingegen ein Konsument agiert ausschließlich für seine privaten und egoistischen Zwecke in 110-prozentiger Erwartungs- und Anspruchshaltung ohne jede Reziprozität. Die französische Sprache unterscheidet hier mit élégance zwischen Bourgeois und Citoyen, was deutsche Konsumenten vor die tiefgeschulte Herkulesaufgabe stellt, dieses Begriffspaar nicht mit Burger bzw. Citroën zu verwechseln. Der Deutsche – zumindest der native Deutsche – liebt es ordentlich. Auch die Wahl zwischen Trash-TV und Feuilleton ist ein Unvereinbarkeitsverfahren ganz im Sinne eines pedantisch preußischen Schubladendenkens. Jessas, Maria und Josef: Der Fernsehsender arte hatte im Jahr 2024 eine ø Zuschauerquote im überschaubaren und dicht am nicht mehr nachweisbaren Messbereich von 1,3 Prozent. Wovon – die mangelnde Nachweisbarkeit – alle bierbeseelten Autofahrer träumen würden. Darauf einen Dujardin! Und für alle lateinisch, nicht arabisch Hochgeschulte, heißt das: Ab in den Garten!
Heute messen wir der Existenz eines Kindes, eines Heranwachsenden den höchsten Wert zu. Eines Adoleszenten, dessen ganzes Schaffen und Lebenspotential noch voraus liegt, ohne zu wissen, was aus dem Nachwuchs werden wird. Wird es klug oder töricht, nobel oder grausam, kreativ oder zerstörerisch? Wenn wir das Erreichte geringer schätzen als das bloße Potenzial, entwerten wir unsere tatsächlichen Taten, unser Handeln, unsere Errungenschaften. Damit nehmen wir dem Leben seinen Sinn und seinen Antrieb. Genau hier beginnt der Nihilismus unserer Tage.
Wir leben in einer Epoche, in der die Zukunft geradezu vergöttert wird. Dazu gehört auch eine moderne Variante der Gottesfurcht. Zum Beispiel jene jenseitige „Gott sei bei uns Furcht“ – die vor dem Klimakollaps. Wir malen da eine Zukunft, die als Maßstab und Richtschnur gelten soll, aber vielleicht ihre Maßgabe, hoffentlich nicht das Ziel zur Vermeidung, verfehlt. (Zur Bedeutung des Phänomens Hoffnung, dazu gleich.) Die faktenbasierte Vergangenheit gilt hingegen als Ballast und die daraus folgende Geschichtsvergessenheit verursacht die Bildungslücken und die blinden Flecke in unserer substanzgeminderten Gegenwart. Die Gegenwart als ein zeitliches Zwischenreich ohne Dynamik und ohne den dringend notwendigen Veränderungswillen. So werden Wirklichkeiten zu Illusionen, Wahrheiten zu Lügen, Nachrichten zu Fake News. Das überbewertete Future-Potenzial entwertet unsere Gegenwart. Grundsatz müsste sein: „Wer es heute kann besorgen, erinnere sich bitte an gestern und delegiere es nicht auf morgen!“ Die Entwertung 2.0 aller Werte, so paradox es klingt, ist ein viel deutlicheres Zeichen eines modernen europäischen Nihilismus, als es ein Friedrich Nietzsche je beschreiben konnte.
Ich bin kein gläubiger Christ, aber ein Christ, hervorgegangen aus der abendländischen Kulturtradition. Das Christentum hat mich geprägt und sozialisiert, nicht zu meinem Nachteil. Ich glaube, aus einer, allerdings kritischen Grundhaltung heraus, dass dieser Hang, die Gegenwart einem erlösenden Morgen zu opfern, im Christentum seinen Anfang nahm. Die Hoffnung – eigentlich eine Tugend – wird zur Erbsünde, wenn sie uns dazu verführt, das reale Leben aufzugeben zugunsten eines vagen, besseren Jenseits oder einer erträumten Zukunft. Vielleicht sollten wir wieder lernen, das Hier und Jetzt zu achten und den Menschen, die davor gelebt und gestaltet haben, den Respekt entgegenzubringen, den sie verdienen. Denn eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit geringschätzt, verliert ihr Fundament. Und eine, die das Alter jetzt entwertet, verliert die menschliche, gewinnt nur eine dekadente Gegenwart, verkörpert durch ihre lebendigste Generation Z ero Point.