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Sonne, Sommer und der Beginn saisonbedingter Jagden nach Stubenfliegen. Diese sind lästig und dabei noch flink in ihrer insektenspezifischen Feindbeobachtung. Dabei kann der Mensch gar nicht umhin, sich selbst als alleinigen Maßstab für Raum und Zeit zu sehen, das sind nun mal die Basics für jede menschliche Auffassung von Wahrnehmung. Am deutlichsten wird dies im Wort Augenblick. Eine Zeit für den Blick mit dem Auge, den zwei menschlichen Einzelaugen. Es sind keine Facettenaugen wie beim Störenfried, der Stören-Feind-Stuben-Fliege. Nur, welche Auffassung von der lebenden Natur ist die objektiv Richtige?

Aus Versuchen wissen wir, dass unsere Sinne durchschnittlich 18 Eindrücke in der Sekunde aufzunehmen vermögen. Ein Sinnesreiz muss also mindestens 1/18 Sekunde dauern, dass eins dieser Sinnesreize eins unserer Sinnesorgane erregen kann. Vorgänge die schneller verlaufen, zum Beispiel der Flügelschlag von Insekten oder eine Gewehrkugel im Flug, nehmen wir nicht unmittelbar wahr. Ihre Geschwindigkeiten sind schlichtweg zu schnell für unsere Sinne. Anders gesagt, sie sind unserem menschlichen Tempo nicht angemessen.

Stellen wir uns einmal vor, statt 80 Jahren würden wir nur einen Monat auf der Welt sein. In diesem einen Monat aber exakt genauso viele Sinneseindrücke haben wie in den 80 Jahren jetzt. Wohlgemerkt nur wir, nicht die anderen Naturlebewesen. Statt achtzehn Eindrücke in der Sekunde könnten wir demnach fast achtzehntausend Eindrücke in der Sekunde verarbeiten. Einer fliegenden Gewehrkugel, die wir wegen ihrer Geschwindigkeit jetzt nicht sehen können, könnten wir dann gemächlich mit dem Blick folgen, so langsam flöge sie für unser schnell sehendes Auge dahin. Sonne und Mond würden sich so langsam bewegen, dass es uns bereits schwerfiele, uns von ihren Bewegungen eine klare Vorstellung zu machen. Vom Wechsel der Jahreszeiten würden wir selbst nichts wahrnehmen.

In den Schriften unserer Vorfahren läsen wir erstaunt von Zeiten, in denen die Erde ganz mit einer weißen Schicht, dem Schnee bedeckt war, das Wasser fest wurde und die Bäume keine Blätter hatten, dass es dabei sehr kalt war. Und später die Wärme wiederkehrte, das Wasser wieder floss, die Erde sich mit Gras und die Bäume mit Blättern bedeckte. Würden uns diese Berichte viel anders berühren als Mythen und Mären aus unserer fernen Urzeit? Wir würden sie lesen, wie wir heute Drachen und Sintflut sagen, Sagen von versunkenen Städten und Kulturen lesen.

Was aber erst würde sein, wenn unsere Lebensuhr noch rascher ginge? Wenn wir also nicht nur tausendmal, sondern tausend mal tausend, ein eine Million Mal schnelleres Zeittempo hätten. Wir lebten dann nur 40 bis 42 Minuten. Unsere Sinne würden so schnell arbeiten, dass uns fast die ganze Welt stillzustehen schiene. Nichts mehr würden wir vom Wachstum der Pflanzen erkennen können. Die vergänglichsten Blüten kämen uns unvergänglich vor. Vom Wechsel zwischen Tag und Nacht könnte der Mensch während seiner Lebensspanne unmöglich eine Vorstellung gewinnen. Vielmehr würde ein alter Mensch unter diesen Minutenmenschen, wenn er im Sommermonat Juni um 18:00 Uhr abends geboren wäre, gegen Ende seines Lebens vielleicht zu seinen Enkeln sprechen: Als ich geboren wurde, stand das glänzende Gestirn, von dem alle Wärme zu kommen scheint, höher am Himmel als jetzt. Seitdem ist es viel weiter nach Westen gerückt. Aber auch immerfort tiefer gesunken. Zugleich ist die Luft kälter geworden.

Es lässt sich voraussehen, dass es bald nach ein oder zwei Generationen etwa ganz verschwunden sein wird. Und dass dann erstarrende Kälte sich verbreiten muss. Tausende von Generationen müssten dahin gehen, ehe die Menschheit einmal den Kreislauf eines Jahres durchmessen hätte. Unbewegt würden die Vögel in der Luft schweben. Höchstens berechnen könnten wir ihre Flugbewegungen wie wir heute die Bahnen ferner Sterne berechnen.

Wir könnten auch den umgekehrten Weg gehen. Nehmen wir an, unser Zeittempo wäre tausendmal langsamer als es jetzt ist und wir lebten nicht 80, sondern 80 Tausend Jahre. Wie nähme sich da die Welt für uns aus? Alles geriete plötzlich in gespenstische Bewegung. Innerhalb weniger Stunden lösten Frühling, Sommer, Herbst und Winter einander ab. Kaum wären Eis und Schnee geschmolzen, sprössen Gräser und Blumen aus dem Boden hervor, schmückten sich die Bäume mit Blättern, setzten sie die Früchte an und verlören sie ihre Blätter wieder. Die Zierpflanzen in unseren Blumentöpfen und Gärten würden uns wie herrliches Feuerwerk, wie hoch explodierende Raketen vorkommen.

Kaum hätten wir das Saatgut in die unruhig brodelnde Erde gesenkt, schon schösse ein grüner Strahl der Stängel in die Höhe und zerplatzte oben in einem jäh aufleuchtenden Blütenzauber bunter Farben. Einen Augenblick später wäre nichts mehr von allem da, das Feuerwerk bereits zu Ende. Andere Pflanzen würden, wie funkelnde Springbrunnen unaufhörlich vor uns aufsteigen und wieder zusammensinken. Wieder andere, ein seltsam geformtes Gewese wie Schlangen auf dem Boden umherkriechen als suchten sie nach Beute. Fantastisch erschiene uns der Tag Nacht Wechsel. In der einen Minute stünde die Sonne am Himmel, in den nächsten der Mond. Und die Sonne zöge einen leuchtenden Schweif hinter sich her.

Aber was wäre, wenn wir unser tausendfach verlangsamtes Zeittempo noch einmal ums Tausendfache verlangsamten? In dieser Welt gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht. Zu rasch würden Licht und Dunkel aufeinanderfolgen. Ein Feuerring wäre unsere Sonne, eine rasend sprintende Kugel. Und wahrscheinlich würde es lange dauern, bis in dieser verwandelten Welt ein Genius, ein „Kopernikus“ aufstünde, seinen staunenden Zeitgenossen zu verkünden, der Feuerring sei nur Augenschein, die Erde werde in Wirklichkeit von einer strahlenden Kugel erleuchtet. Ähnlich stünde es mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Zwar nähmen wir ihn wahr, aber alles ginge so rasch vorüber, dass wir Mühe hätten, uns dem Wechselspiel der Verwandlungen anzupassen. Kaum hätten wir uns vom Stuhl erhoben, um durch das Fenster in den frühlingshaften Garten zu schauen, schon brausten die Herbststürme durch die Wipfel der kahlen Bäume und einige Sekunden später jagten die Wirbeltänze der weißen Flocken über die leeren Beete dahin.

Zurück auf Start, Musca domestica, zur Stubenfliege. Eine der düstersten Aussichten via Zukunft, ist die einer staugefluteten deutschen Autobahntrasse, versehen mit unzähligen Monstertrucks, an den Steuerknüppeln evolutionär zum Rapid-Move herangezüchtete Großinsekten: Die der Verkehrselite zugehörige Monsterschabe. Dagegen wäre der deutsche Kfz-Führer ein vom Raub- da nieder degeneriertes Schmusekätzchen. Infarktgeschehen.

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