Tagesaktualität: Der US-Präsident hat seine Kandidatur zu einer zweiten Amtszeit verkündet. Die Experten sehen einen Wahlkampf 2024 zwischen Joe Biden und Donald Trump voraus. Bidens Siegchancen seien dann gut, denn die amerikanischen Wähler mögen Sieger, keine Verlierer und verweisen auf die Wahl 2020. Was übersehen wird: Trumps Narrativ, dass bei dem Großteil der Wählerschaft verfängt, er hätte diese Wahl nicht verloren, er, Präsident Senior Donald Trump, wäre um den Sieg betrogen worden – trotz der objektiven Tatsache des rechtmäßigen Sieges seines Kontrahenten. Aus dieser Perspektive wäre Joe Biden der „wahre“ Verlierer der Wahl 2020, prädestiniert für eine weitere, diesmal vernichtende Niederlage. Ja, vernichtend für das demokratische Staatswesen der USA – indeed!
Fazit: Erzählungen verändern auf lange Sicht ihren Sinn. Wie hier bereits früher erwähnt, leben wir in einer Umbruchzeit, was die Glaubwürdigkeit von Nachrichten, Meldungen, ja allgemein „Erzählungen“, sprich neudeutsch Narrative angeht (siehe, Eintrag vom 21. April 2023). Begriffe wie Lüge, Wahrheit bilden kein Gegensatzpaar mit eindeutiger Positionierung mehr. Allgemeine Orientierungslosigkeit, Verschwinden von Gewissheiten sind die Folgen.
Neu ist das nicht, wenn Gegenwartsgewissheit schwindet, Erzählkultur sich ändert. In einer anderen Übergangszeit, der Renaissance, der europäischen Epoche zwischen 1350 und 1620, veränderten sich die Dinge gleichsam fundamental, in der Rückschau wie immer nur einfacher erkennbar als heutzutage:
„Geschichtenerzählen, so heißt es, sei eine leichte, eine mondäne Kunst. Oft schon wurde Boccaccio (1313-1375) als Libertin bezeichnet, der die List und das Wohlleben preist, indem er scheinbar arglos zufällig aufgeschnappte Geschichten aus dem Volk erzählt, die es in sich haben. Etymologisch kommt der Begriff der ‚Novelle‘ vom lateinischen ‚novus, nova‘ und bedeutet ‚Verkündung von etwas, das sich kürzlich ereignet hat‘ oder ‚Erzählung von etwas Unerhörtem‘.
Scheinbar beiläufig und vorwiegend der Unterhaltung dienend, bietet die Novelle, die nicht zufällig in einem aufgeschlossenen und kosmologischen Händlermilieu in Florenz entstand, eine rationale, nichtkonfessionelle, ironische und grenzüberschreitende Auffassung der zeitgenössischen Realität.
Die Logik wird zum Mittelpunkt des narrativen Diskurses. Der Schriftsteller versteht sich nicht mehr als Wahrer der göttlichen Stimme, sondern als einfacher Zeuge, der hinschaut, beobachtet und berichtet. Seine Aufgabe besteht nicht so sehr im Urteilen, sondern in der Berichterstattung. Der Schriftsteller wird zum Chronisten seiner Zeit. Ein nüchterner Chronist, der die Mängel und Vorzüge der Gesellschaft, in der er lebt, hervorhebt, allein aus Freude daran, sie weiterzuverbreiten, und nicht, weil er aus einem Pflichtgefühl gegenüber den Notaren des Göttlichen mit dem Finger auf sie zeigt. Es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, seine Figuren in die Hölle oder in den Himmel zu schicken. Das soll Gott schon selbst erledigen, und sollte er abwesend sein, werden sich seine Diener darum kümmern.
Was zählt, ist das Alltagswissen über die reale Welt, in die wir hineingeboren wurden. Man könnte sogar sagen, dass die Novelle aus einem Hang zur Wissenschaft entstanden ist, sofern es sich um eine Beobachtungswissenschaft handelt, die wir heute Soziologie und Anthropologie nennen würden. Ganz im Gegensatz zu dem, was noch Dante mit seinen wütenden Verurteilungen und feierlichen Absolutionen umtrieb. Doch überträgt Boccaccio, unser Dante Alighieri, mit geradezu diabolischer Weisheit das Verstehen der Welt und die psychologische Intelligenz in Sprache.“
Boccaccio, Dacia Maraini in: Lettre International 140 Frühjahr 2023, S.109