Jetzt, wo jedes morgendliche Aufwachen im Hellen geschieht, die lebendigen Vogelstimmen das Aufstehen erleichtern, sei frühlingshafte Hybris bei Erkennung meiner Selbst während dieser Portraitbeschreibung erlaubt, beim lebensfrohen Tanz auf dem Vulkan, nein, beim 1. Mai - Tanz, überschwänglich:
„Er lebte ohne Ehefrau und Kinder, hatte aber Geliebte. Ihn hielt kein Amt, kein Beruf. Kein Zeitgenosse konnte ihm jetzt etwas vormachen. Die Ausbildung an der Universität hatte er zu seinem Vorteil abgeschlossen, er war im Besitz einer Philosophie, die er aus eigenen Kräften entwickelt hatte. Aus dieser Zuversicht und Treue zu sich selbst sprach eine enorme Selbstsicherheit.
In seinen Worten gesagt: ‚Ohne alle Aufmunterung von außen hat die Liebe zu meiner Sache ganz allein, meine vielen Tage hindurch, mein Streben aufrecht gehalten und mich nicht ermüden lassen: mit Verachtung blickte ich dabei auf den lauten Ruhm des Schlechten. Denn beim Eintritt ins Leben hatte mein Genius mir die Wahl gestellt, entweder die Wahrheit zu erkennen, aber mit ihr Niemanden zu gefallen; oder aber, mit den Andern das Falsche zu lehren, unter Anhang und Beifall; mir war sie nicht schwer geworden.‘
Eine außergewöhnliche Eigenliebe paarte sich mit einem Sendungsbewusstsein historischen Ausmaßes. Deutschland, Frankreich und der Rest der Welt mochte verwirrend, ein Ort von Krieg und Leid und in ständiger Veränderung begriffen sein, er jedoch hatte ihr Grundprinzip entdeckt, die Kraft, die sie am Laufen hielt. Wie ein Sieger muss er sich gefühlt haben, ein junger N., der wusste, wie Schlachten zu gewinnen waren. Jetzt fehlte nur noch die Anerkennung der Zeitgenossen. Auf sie musste er lange warten.
Seine Philosophie war nicht nur Theorie, aus der sich kein unmittelbarer Nutzen für den Alltag ziehen lassen würde, wie bei F. W. Sch.. In praktische Ratschläge übersetzt, lief sie auf eine Sammlung von Aphorismen zur Lebensweisheit hinaus. Einen solchen Leitfaden für die etwas schwerfälligen Mitbürger, die das umfangreiche erste Werk kaum beachtet hatten, legte er mit Erfolg im Alter vor. Damals war er 63 Jahre alt. Gedanken knapp zu fassen und handlich darzubieten war eine Lesehilfe.“
Eberhard Rathgeb, Die Entdeckung des Selbst