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Kürzlich ist hier über Narzissmus geschrieben worden. Dieses Thema soll erneut aufgegriffen werden, ohne diesen Begriff ein weiteres Mal zu verwenden. Vielmehr geht es um die Frage, wie die eigene Zufriedenheit möglich ist - oder auch verfehlt wird.

Im Grunde gibt es nur ein Hindernis für den eigentlich von jedem von uns angestrebten Zustand der Zufriedenheit, den Frieden mit sich selbst. Und dieses Hindernis sind wir, nicht andere Personen, nicht die Umstände.

Folgende Situation: Wir geraten in Streit und werden verbal beleidigt. Normalerweise fühlen wir uns direkt und persönlich angesprochen, mehr noch, wir fühlen uns angegriffen. Wie sonst sollte unsere Reaktion auch ausfallen? Alternativ könnten wir aber auch eine besondere Distanz schaffen und die Beleidigung einfach hinterfragen, mit der Überlegung, dass mich der andere doch gar nicht umfassend kennt. Täte er das, würde er sich nicht so äußern.

Methodisch schaffe ich so eine Distanz zu meinem Ego. Und beobachte mich selbst bei diesem Vorgang - das ist die Pointe. Auf mein Hinhören beleidigter Worte, schaffe ich diese eigene Distanz zu meinem Ego und finde dabei mein eigenes Selbst, finde ein Korrektiv zu den Beleidigungen, um beim Beispiel zu bleiben.

Eine derartige Distanz ist eine Form der Selbstbeobachtung und nicht eine Abart von Distanz, welche lediglich ein Nebens-Sich-Stehen wäre, und deshalb wenig authentisch und hilfreich. Es geht stattdessen um eine besondere Art der Selbstachtsamkeit, die auch unsere eigene Körpersprache, unsere eigene Mimik sensibilisiert. Ergebnis: Diese Distanz ermöglicht eine Selbstversöhnung mit unseren Gefühlen; Emotionen, die bei Beleidigungen, Angriffen, Verletzungen und Ablehnungen unserer Persönlichkeit verständlicherweise negativer Art sind: Wut, Ärger, Empörung, Vergeltungsgelüste, etc.

Nochmals zum Unterschied des Phänomens Ego vs. Selbst: Ego ist, was ich meine zu sein, mir jedoch größtenteils von außen vorgesetzt wird. Selbst ist, was ich bin.

Anmerkung und das in Form einer Meinung,  ;-) : Wer denkt, der wertet nicht. Wer aber wertet und urteilt, hat ständig eine Meinung. Nur, Urteile haben ihren Ort typischerweise vor Gericht und in der Schule, aber nicht in der gesamten Lebenswelt. Deshalb kratzt dieses ganze Getöse der akuten Meinungsgesellschaft so sehr an unsere Nerven!: „ Ich finde…, ich finde…, Ich  finde“!: Meine Güte, die Zeit der großen Weltentdeckungen liegt längst hinter uns, Ihr Weltentdecker, die Ihr immer wieder etwas findet!  

Distanz zum Ego schafft ein Selbst, schafft ein wahres Selbstbewusstsein. Es ist eine Verwandlung vom Ichling zum Selbst.

Und wie ermögliche ich generell eine Haltung, die für eine Distanz zu mir im obigen Sinne sorgt? Zum Beispiel durch Neugier auf Dinge, auf Mitmenschen, bei denen ich vielleicht sogar der Meinung bin, sie wären erst einmal nichts für meine Gewohnheiten und Vorlieben. Da mir mein Gegenüber nicht gleicht in seinem mir so eigenwilligen Dasein, passt er mir per se nicht, passt gar nicht zu meinen Vor-Urteilen. Schlimmer noch: Da ich mir gar nicht vorstellen kann, dass es andere Menschen mit anderen Meinungen und Ansichten geben kann, ja gar nicht geben darf, bin ich stets verwundert und ständig in einer empörenden Lebenshaltung gegenüber der Welt, meiner unmittelbaren Umwelt gegenüber. Ich bin dann im sogenannten Spießbürger-Modus mit mehreren Überschussdosen „Moralin“ in meinen Adern und Venen, in einem Modus Disvivendis, welcher in erster Linie, ja, nur mir selbst schadet und so gar keine Ver_Söhnung um mich herum schafft.

Schlimmer noch: Verliert sich die gesunde Gier auf Neues und Unbekanntes, verkümmert der Mensch. Man verbittert und ist einsam - ist sprichwörtlich verdammt zur Einsamkeit.

„Es gibt fast nichts in der weiten Welt, was sich nicht mit meiner Existenz verbinden ließe.“ Karl-Markus Gauß (Reiseschriftsteller)

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Die philosophische Erkenntnistheorie kennt die „Hypothese von der Computersimulation“. In dem Buchbestseller „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier aus dem Jahr 2020, inzwischen ist auch die Taschenbuchausgabe erschienen, wird u.a. diese Theorie in einer unterhaltsamen und spannenden Erzählung dargestellt, wobei Kritik und Leserschaft die Mischung aus Thriller, Komödie und großer intelligenter Literatur lobt. Zum Inhalt: Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni desselben Jahres landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal. So führen alle beteiligten Personen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Es gibt sie tatsächlich doppelt und sind jeweils mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt. Hier ein Schlüsselkapitel, mit der Überschrift Descartes 2.0 :

 

Freitag, 25. Juni 2021, Hypothesenraum, McGuire Air Force Base (USA)

Müde Menschen sind streitsüchtig. Erschöpfte erheblich weniger. Es ist sechs Uhr morgens, als Adrian, Tina und ihre ersten zwanzig Experten sich in einer Kommandozentrale einrichten. Um sieben Uhr sind es, im Takt der Helikopter, die sie nach McGuire einfliegen, vierzig. Es werden Sofas aufgestellt, Smartboards angebracht, ein Soldat schließt eine Espresso Maschine an.

Eine Minute reicht aus, um die Situation darzulegen. Es folgen zehn Minuten für Fragen, und Tina und Adrian beschränken sich darauf, das Unwahrscheinliche zu wiederholen: Diese Leute im Hangar sind in der Tat dieselben wie jene, die bereits hundertsechs Tage zuvor gelandet sind, und das im selben Flugzeug. Der Dialog zwischen Adrian Miller und Ricardo Bertoni - er steht auf der Shortlist des Physik Nobelpreises 2021 für seine Arbeiten über die schwarze Materie - gibt ein Resümee der Lage:

- Sie verarschen uns, Professor Miller?

- Wenn es doch so wäre.

Um neun Uhr morgens, während Tina Wang gerade die interdisziplinäre Sitzung im Hypothesenraum moderiert, kehrt Adrian wieder zur Task Force zurück. Meredith sowie ein großer, schlanker Typ mit üppigem grauem Haar und stahlblauen Augen begleitet ihn. Silveria zeigt auf einen Videokonferenz-Bildschirm, auf dem bekannte Gesichter zu sehen sind:

- Professor Miller, der Präsident der Vereinigten Staaten ist uns direkt zugeschaltet, aus Rio, desgleichen der Außenminister und der Minister für Heimatschutz.

- Dieses Phänomen ist ungeheuerlich, Herr Präsident, beginnt Adrian und kratzt sich am Hals, aber wie schon Arthur C. Clarke sagte: Jede hinreichend fortgeschrittene Technik ist von Zauberei nicht zu unterscheiden. Wir konnten zehn Hypothesen aufstellen, sieben davon sind scherzhaft gemeint, drei verdienen unsere Aufmerksamkeit, und eine hat die Zustimmung der Mehrheit. Beginnen wir mit der Einfachsten.

- Bitte sehr, sagt Silveria.

- Das „Wurmloch“. Ich überlasse der Topologikerin Meredith Harper das Wort.

Meredith greift auf dem Schreibtisch nach einem schwarzen Stift und ein Blatt Papier, das sie in der Mitte faltet. Sie hat den starken Eindruck, in der pädagogischen Sequenz eines Science-Fiction-Films mit ganz niedrigem Budget zu spielen, aber was soll’s.

- Danke Adrian. Nehmen wir an, der Weltraum könnte wie ein Blatt Papier zusammengefaltet werden ... aber in einer Dimension, die uns nicht zugänglich und keine der drei uns bekannten ist. Falls unser Universum tatsächlich der Stringtheorie gehorchen sollte, handelt es sich um einen Hyperraum mit zehn, elf oder sechsundzwanzig Dimensionen. In diesem Modell ist jedes Elementarteilchen eine Art von in mehreren Dimensionen um sich selbst gewickelte, vibrierende Saite, wobei jede Saite auf verschiedene Weise schwingt. Können sie mir folgen? ...

Der Präsident verharrt mit offenem Mund, weist starke Ähnlichkeit mit einem fetten Barsch unter blonder Perücke auf.

- Also, in den nun gefalteten Weltraum machen wir ein „Loch“ ...

Meredith Harper sticht mit der Spitze des Bleistifts durch das Papier und schiebt den Zeigefinger durch die Öffnung ... - und können nun ganz leicht von einem Punkt in unserem dreidimensionalen Weltraum zu einem anderen Punkt gelangen. Das nennt man eine Einstein–Rosen–Brücke, ein Lorentz-Wurmloch mit negativer Masse.

- Ich verstehe, sagt der Präsident der Vereinigten Staaten und runzelt die Stirn

- Das alles folgt den Gesetzen der klassischen Physik. In unserem Einstein‘schen Raum überschreiten wir nicht die Lichtgeschwindigkeit. Aber durch die Öffnung eines Vortex im Hyperraum kann man im Bruchteil einer Sekunde zwischen den Galaxien hin und her reisen.

- Diese Vorstellung findet sich in zahlreichen Romanen, sagt Adria, der Meredith zu abstrakt findet. In Dune von Frank Herbert, oder anderen. Und die Idee ist in einem Film wie Nolans Interstellar übernommen worden. Oder in der Serie Star Trek mit dem Raumschiff USS Enterprise.

- Star Trek! Die habe ich gesehen, richtig, ruft der Präsident plötzlich dazwischen.

- Gewöhnlich, nun ja, wie soll ich sagen, fährt Meredith fort, durchschreitet man im selben Augenblick Raum und Zeit, es gibt keinerlei Grund dafür, dass sich was auch immer verdoppelt. Und hier haben wir nun diese beiden Flugzeuge ...

- Das ist, als ob das Raumschiff Enterprise an zwei Punkten des Weltraums auftauchte, begeistert sich Miller, mit zwei Captain Kirk und zwei Mr. Spock, zwei ...

- Danke, Professor Miller, sagt Silveria, wir haben verstanden ... Und die zweite Hypothese?

- Wie nennen Sie den „Fotokopierer“, wir haben das mit Brian Mitnick von der NSA angesprochen.

Mitnick nickt und zieht den Schmollmund des braven Schülers, der nicht wenig stolz darauf ist, erwähnt zu werden.

- Wie Sie wissen, fährt Miller fort, hat die Revolution des Bioprinting begonnen ...

- Pardon? Seien Sie bitte klarer!, fordert Silveria, der den präsidentiellen Unmut vorausahnt und selbst in die Rolle des Unbedarften schlüpft.

- Man druckt biologische Materie in 3D. Innerhalb einer Stunde kann man heutzutage ein menschliches Herz von der Größe einer Maus herstellen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Genauigkeit der Auflösung verdoppelt, desgleichen die Geschwindigkeit des Druckers und das Volumen der reproduzierten Objekte. Wenn man die exponentiellen Kurven in jedem dieser Bereiche weiterverfolgt, ist man bei konservativer Schä ...

- Ich bin konservativ, unterbricht der Präsident und Miller fragt sich einen Augenblick lang, ob das ein Scherz ist.

- Also, fährt der Mathematiker fort, in weniger als zwei Jahrhunderten werden wir im Bruchteil einer Sekunde ein Objekt wie dieses Flugzeug scannen und mit einer Auflösung, die sich in Atomen bemisst, genauso schnell drucken können. Es stellen sich indes zwei Probleme: Erstens, wo stand der Drucker? Zweitens, woher kamen die Rohstoffe zur Herstellung des Flugzeuges und der Passagiere?

- Aber das ist es ja ... dieses Bild des „Fotokopierens“, wirft Meredith ein, geht davon aus, dass es Original und Kopie gibt. Und aus dem Fotokopierer in unserem Büro ist das, was immer zuerst herauskommt die Fotokopie.

- Ich verstehe, denkt Silveria laut. Das „kopierte“ Flugzeug wäre mithin am vergangenen 10. März gelandet. Und es wäre das „Original“, dass gerade gelandet ist. Warum sollten wir in diesem Fall die Elemente der beiden Gruppen unterschiedlich behandeln, nur weil das erste Flugzeug …

... zuvor aus dem Fotokopierer herausgekommen ist ..., schließt Meredith.

- Ich möchte noch die letzte Hypothese ansprechen, ergreift Miller wieder das Wort. Sie enthält den größten Zuspruch, ist aber auch die schockierendste.

Auf dem Bildschirm schüttelt der Präsident den Kopf und stellt mit gerunzelter Stirn, die Ausweis seiner Konzentration ist, die Frage:

- Wollen sie von einem Eingriff Gottes sprechen?

- Äh, nein, Herr Präsident … diese Hypothese hat niemand vorgebracht, antwortet Miller überrascht.

Silveria wischt sich über die Stirn.

- Kommen wir zur dritten, Miller.

- Wir nennen sie die „Bostrom-Hypothese“. Ich spreche von Nick Bostrom, einem Philosophen, der in Oxford lehrt und zu Beginn des Jahrhunderts …

- Das ist sehr lange her, seufzt der Präsident.

- Zu Beginn dieses Jahrhunderts, fährt Miller fort. Genauer gesagt 2002. Ich übergebe das Wort an Arch Wesley von der Columbia–Universität, er ist Logiker.

Der große Typ mit dem wirren Haar tritt an eine Tafel, an die er eine Gleichung kritzelt …

 

Fsim  = (fpfiNi) / ((fpfiNi)+1)

 

… bevor er sich mit einem gütigen Lächeln und leicht dosierte Aufgeregtheit dem Bildschirm zuwendet:

- Guten Tag Herr Präsident. Bevor ich diese Gleichung erkläre, möchte ich damit beginnen, über die Realität zu sprechen. Alle Realität ist eine Konstruktion, und mehr noch eine Rekonstruktion. Unser Gehirn ist in der Dunkelheit und Stille des Schädels eingeschlossen, es hat keinen anderen Zugang zur Welt als über Sensoren, also unsere Augen, unsere Ohren, unsere Nase, unsere Haut: Alles, was wir sehen, fühlen, wird ihm über elektrische Leitungen, unsere Synapsen ... unsere Nervenzellen, zugeleitet, Herr Präsident.

- Ich hatte verstanden danke.

- Natürlich. Und das Gehirn rekonstruiert die Realität. Auf Grundlage der Zahl seiner Synapsen stellt das Gehirn zehn Millionen Milliarden Operationen pro Sekunde an. Sehr viel weniger als ein Computer, doch mit mehr Vernetzungen. Aber in ein paar Jahren wird man es schaffen, ein menschliches Gehirn nachzustellen, und dieses Programm wird einen gewissen Bewusstseinsgrad erreichen. Eric Drexler, der Spezialist für Nanotechnologien, hat ein System von der Größe eines Zuckerwürfels ersonnen, das in der Lage wäre, hunderttausend menschliche Gehirne zu reproduzieren.

- Hören Sie auf mit Ihren Milliarden, ich verstehe kein Wort davon, sagt der Präsident, und viele meiner Kollegen auch nicht. Fahren Sie bitte mit ihrer Darstellung fort.

- Gut, Herr Präsident. Stellen wir uns bitte einmal höhere Wesen vor, deren Intelligenz zu unserer im selben Verhältnis besteht wie die unsere zu der eines Regenwurms … Unsere Nachfahren vielleicht. Stellen wir uns außerdem vor, dass wir über so leistungsstarke Computer verfügen, dass sie mit größter Genauigkeit in einer virtuellen Welt ihre „Vorfahren“ wiederaufleben lassen können und sie dabei beobachten, wie sie sich auf unterschiedlichen Schicksalsbahnen entwickeln. Mit einem Computer von der Größe eines kleinen Mondes könnte man milliardenfach die Menschheitsgeschichte von der Geburt des Homo sapiens an simulieren. Das ist die Hypothese der Computersimulation …

- Wie in dem Film Matrix?, fragt der Präsident im Tonfall dessen, der nicht verstanden hat.

- Nein, Herr Präsident, antwortet Wesley. In Matrix sind es Maschinen, die Energie aus den Körpern echter Menschen ziehen, gefesselte Sklaven aus Fleisch und Knochen. Diese gestatten Ihnen, in einer virtuellen Welt zu leben. In unserer Hypothese ist es umgekehrt: Wir sind keine realen Wesen. Wir glauben, menschliche Wesen zu sein, dabei sind wir nur Programme. Sehr hoch entwickelte Programme, aber dennoch Programme. Wie der Agent Smith in Matrix, Herr Präsident. Nur dass der Agent Smith weiß, dass er ein Programm ist.

- Das heißt also, ich sitze in diesem Moment nicht an einem Tisch und trinke meinen Kaffee?, äußert sich Silveria. Was wir wahrnehmen, fühlen, sehen … auch das wäre simuliert?  Alles ist falsch?

- Das ändert nichts an der Tatsache, Herr General, dass sie gerade an diesem Tisch einen Kaffee trinken, fährt Wesley fort, es ändert sich nur, woraus der Kaffee und der Tisch gemacht sind. Es wäre ganz einfach: Die maximale Brandbreite der sensorischen Wahrnehmung ist beim Menschen nicht sehr groß. Die Kosten für die Simulation aller Geräusche, Bilder, taktilen Wahrnehmung und Gerüche wären belanglos. Selbst unsere Umwelt ist nicht sehr schwer nachzuahmen, alles hängt von der Detailgenauigkeit ab: „Simulierte Menschen“ würden keine Anomalien in ihrer virtuellen Welt feststellen, sie hätten ihr Haus, ihr Auto, ihren Hund und selbst ihren Computer, wo wir gerade dabei sind.

- So wie in der britischen Serie Black Mirror, Herr Präsident, souffliert Adrian Miller …

Der Präsident runzelt die Stirn, und Wesley fährt fort.

- Im Übrigen: Je weiter wir in der Kenntnis des Universums fortschreiben, desto mehr scheint es uns auf mathematischen Regeln zu beruhen.

- Aber bei allem Respekt, Herr Professor, unterbricht ihn Silveria, ließe sich nicht mit einem Experiment nachweisen, dass sie uns irgendeinen Blödsinn erzählen?

- Ich fürchte nein, amüsiert sich Wesley. Wenn die künstliche Intelligenz, die uns simuliert, bemerkt, dass ein „simulierter Mensch“ sich anschickt, die Welt durchs Mikroskop zu betrachten, braucht sie ihm nur genügend „simulierte“ Details zu liefern. Im Fall eines Irrtums bräuchte man lediglich die Disposition der „virtuellen Gehirne“ neu zu programmieren, die eine Anomalie bemerkt hätten. Oder einige Sekunden zurückzugehen mit einer Art Undo-Funktion, verstehen Sie, und die Simulation erneut so durchzuführen, dass Probleme vermieden werden …

- Was sie da erzählen, ist lächerlich, platzt der Präsident heraus. Ich bin kein Super Mario, und ich werde unseren Mitbürgern auch nicht erklären, dass sie Programme in einer virtuellen Welt sind.

- Ich verstehe, Herr Präsident. Aber andererseits ist ein Flugzeug, das aus dem Nirgendwo auftaucht und die exakte Kopie eines anderen ist, mit all seinen Passagieren und bis hin zum kleinsten Ketchup-Fleck auf dem Teppichboden, auch unwahrscheinlich. Erlauben Sie mir, Ihnen die Formel zu erklären, die ich aufgeschrieben habe?

- Machen Sie schon, entfährt es dem Präsidenten wütend. Aber schnell.

- Ich erkläre Ihnen die Grundidee. Ich möchte ihnen zeigen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir mit unserem Bewusstsein Teil dieser Simulationen sind. Eine technische Zivilisation öffnen sich nur drei mögliche Schicksale: Sie kann natürlich aussterben, bevor sie die technologische Reife erreicht hat, wofür wir mit der Umweltverschmutzung, der Klimaerwärmung, dem sechsten Sterben und so weiter ein großartiges Beispiel abgeben. Ich für meinen Teil denke, dass wir, ob simuliert oder nicht, untergehen werden.

Der Präsident zuckt mit den Schultern. Aber Wesley fährt fort:

- Aber das ist nicht das Thema. Nehmen wir trotz allem an, dass jede tausendste Zivilisation sich nicht selbst zerstört. Sie erreicht ein posttechnisches Stadium und versieht sich mit einer unvorstellbaren rechnerischen Leistungsstärke. Und nehmen wir weiter an, dass unter diesen überlebenden Zivilisationen eine einzige von Tausend den Wunsch hat, die „Vorfahren“ oder „Konkurrenten ihrer Vorfahren“ zu simulieren: Dann wird diese eine von einer Million technischen Zivilisationen ganz allein in der Lage sein, sagen wir, eine Milliarde „virtueller Zivilisationen“ zu simulieren. Und unter „virtueller Zivilisation“ verstehe ich jeweils Hunderte von virtuellen Jahrtausenden, während derer Millionen von virtuellen Generationen aufeinanderfolgen, die Hunderte von Milliarden denkender Wesen in die Welt setzen werden, die ebenso virtueller Natur sind. Ein Beispiel: In den fünfzigtausend Jahren ihres Daseins sind weniger als hundert Milliarden Cro–Magnon-Menschen über die Erde gewandert. Die Cro-Magnon, also uns, zu simulieren, ist eine einfache Frage der Rechenkapazität. Folgen Sie mir?

Wesley schaut nicht auf den Bildschirm, wo der Präsident die Augen zum Himmel verdreht, und fährt vor:

- Was zählt ist Folgendes: Eine hypertechnisierte Zivilisation kann tausendmal mehr „falsche Zivilisationen“ simulieren, als es „echte“ gibt. Was bedeutet, dass, wenn man sich aufs Geratewohl ein „denkendes Gehirn“ herausgreift, meines, Ihres, die Chancen so stehen, dass es sich in 999 von 1000 Fällen um ein virtuelles Gehirn handelt und in einem von Tausend, dass es ein echtes ist. Anders gesagt, das „Ich denke, also bin ich“ aus Descartes‘ Discours de la méthode ist obsolet. Vielmehr gilt: „Ich denke, also bin ich ziemlich sicher ein Programm.“ Descartes 2.0, um die Formel einer Topologikerin aus unserer Gruppe zu zitieren. Können Sie mir folgen, Herr Präsident?

Der Präsident sagt nichts. Wesley beobachtet ihn, wie er in seiner trotzig wütenden Haltung verharrt, und schließt:

- Sehen Sie, Herr Präsident, ich kannte diese Hypothese, und bis zum heutigen Tag schätzte ich die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Existenz nur ein Programm auf einer Festplatte sei, mit eins zu zehn ein. Nach dieser „Anomalie“ bin ich mir so gut wie sicher. Das würde im Übrigen Fermis Paradoxon erklären: Wenn wir niemals Außerirdischen begegnet sind, dann nur, weil deren Existenz in unserer Simulation nicht vorprogrammiert ist. Ich denke sogar, dass wir mit einer Art Test konfrontiert sind. Weiter gedacht könnte es sein, dass die Simulation uns, eben weil wir uns nunmehr vorstellen können, Programme zu sein, diesen Test vorschlägt. Und es liegt in unserem Interesse, ihn zu bestehen, oder wenigstens etwas Interessantes daraus zu machen.

- Und warum?, fragt Silveria.

- Weil, wenn wir versagen, die Verantwortlichen dieser Simulation sehr wohl alles abbrechen könnten.

Hervé Le Tellier, Die Anomalie

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In der arte Mediathek kann man derzeit eine TV-Sendung über die Geschichte Chinas streamen. Die Besonderheit der langen chinesischen Historie besteht in dem durchgehend 5 Tausend Jahre langen staatlichen zivilisatorischen Verlauf. Der Dreiteiler ist fokussiert auf die Zeit von 1839 bis 2021. Die chinesische Geschichte von 1839 bis zur Ausrufung der Chinesischen Volksrepublik war eine Geschichte größter nationaler Demütigung durch ausländische Kräfte, eine Zeit grausamer Bürgerkriege im Inneren. Krisen und Konflikte, die auch mit dem Beginn der Herrschaft durch die kommunistische Partei im Jahre 1949 nicht endeten.

Die Sendung schließt mit den Sätzen:

„In weniger als 200 Jahre durchlebten die Chinesen tausend Träume und ebenso viele Albträume. Von der Utopie zur Dystopie, vom Konfuzianismus zum Sozialismus. Vom Marxismus zum Gesetz des Marktes. Keine Ideologie blieb ihnen erspart.

Mehr als andere Menschen haben sie vielleicht gelernt sich anzupassen, alle Gewissheiten, alle Parolen loszulassen.

Zustimmen ohne zu glauben. Glauben ohne zuzustimmen. Wenn nötig schweigend lachen. Wenn möglich laut. Gewiss, dass sich das morgen viel wertvoller erweisen kann, als man im Moment zuzugeben wagt.

Die Erben von tausenden Jahren kontinuierlicher Geschichte haben zwangsläufig eine andere Wahrnehmung der Zeitläufe. Typisch ist die Antwort des früheren Premierministers Zhou Enlai (1898-1976) auf die Frage nach den Auswirkungen der "Großen Französischen Revolution von 1789" als er im Jahre 1972 erwiderte, es sei zu früh, das zu bewerten. !!!

Eine von Franz Kafkas Erzählungen (Dem ewigen Sohn, so der Titel der Kafka-Biografie von Peter-André Alt) lautet: Beim Bau der Chinesischen Mauer.

Der beidseitige Umgang der sogenannten westlichen Welt und Chinas ist facettenreich und, so die Konstante, von fundamentalem Unverständnis gekennzeichnet gewesen. Auch heute lautet die Äußerung der einen Seite: Da jedes autoritäre Regime ahnt, sich selbst besser zu dienen als seinem Volk, wird es in eine Krise geraten und zusammenbrechen; die der anderen Seite: Die Menschenrechte, die europäische Aufklärung, das ist eine kulturelle Besonderheit Europas, die geht uns nichts an. Deshalb sind uns eure Menschenrechte egal, wir identifizieren uns einfältig national, nicht vielfältig kulturell.

Nach Mao Zedongs Tod im Jahre 1976 regierte Deng Xiaoping (1904-1997) das Land, öffnete es ökonomisch und führte es langsam aber mit Nachdruck in die weltwirtschaftlichen Handelsströme ein. Der Westen erhoffte sich mit dieser Kooperation nach jahrzehntelanger Konfrontation eine Entwicklung Chinas hin zu demokratischen Strukturen westlicher Prägung.

Ganze Länder lassen es an gegenseitigem Verständnis fehlen. So wie auch das Verständnis einzelner Menschen untereinander fehlen kann, Menschen, die das Lebensschicksal zusammengeführt hat.

Doch zurück zur Politik: Führende Politiker aus Amerika und Europa haben nach der wirtschaftlichen Öffnung und Mao Zedongs Ableben einen großen Fehler gemacht und nicht zugehört, so das chinesische Narrativ und die späte Einsicht der westlichen Welt. Wenige Jahre vor seinem Tod 1997 hatte Deng Xiaoping für seine Nachfolger einen weisen Rat.

Verbergt Eure Talente! Wartet ab und seid geduldig!

Soll heißen, "verstecke deine Stärken und warte ab bis deine Zeit gekommen ist". Diese alte chinesische Redeweise meint: Man soll sich zurückhalten, wenn der Gegner zu stark ist. Man soll nicht kämpfen, sonst wäre es, als würde man ein Ei auf einen Stein werfen. Man wartet bis der Gegner weg oder tot ist - dann kann man übernehmen.

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In der erfolgreichen Science-Fiction-Trilogie Trisolaris von Cixin Liu, die angeblich auch Leser wie Elon Musk und Barack Obama erreichte, wird zu Beginn des zweiten Bandes mit dem Titel „Der dunkle Wald“ eine Begegnung Mensch/ Ameise aus der Bewusstseinsperspektive der Letzteren beschrieben. Was vordergründig als abwegige Idee erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als genialer Einfall.

Seit längerer Zeit gibt es in der Weltraumforschung ambitionierte Programme zur Entdeckung sogenannter Exoplaneten, die als mögliche Heimstätten extraterrestrischer Lebensformen gelten könnten. Begleitet werden diese wissenschaftlichen Studien nicht selten mit dem Wunsch nach einer Kontaktaufnahme zu außerirdischen intelligenten Existenzen.

Zwar halten Experten dies eher für unwahrscheinlich, sogar für sehr unwahrscheinlich. Es sind nicht nur die unermesslich riesigen Entfernungen, die für eine potenzielle Begegnung der besonderen Art zu überbrücken sind. Ausschlaggebend sind auch die unendlich kleinen Zeitfenster in Anbetracht der Unverhältnismäßigkeit geologischer Zeitskalen zu jenen Zeitperioden, in denen auf zivilisatorisches und technologisches Potential überhaupt zurückgegriffen werden kann.

Hinzu kommt die Hypothese vieler Forscher, dem Begriff von Leben eine immanente Selbstzerstörung als eines ihrer Definitionsprinzipien zu unterstellen, ähnlich einer eingebauten Mindestfunktionslaufzeit uns bekannter Elektrogeräte. Was mit dem Tod eines individuellen Lebens, aber auch mit dem Aussterben ganzer Arten endet, findet ihr Ende nach einer zeitlich kosmisch überschaubaren Distanz vielleicht auch mit dem Leben als verwirklichte Idee.

Nun einmal angenommen eine Begegnung mit außerirdischer Intelligenz findet doch statt. Das „Andere“ wird uns unvorstellbar überlegen sein. Denn dieses „Andere“ wird das Rätsel der riesigen „Zeit-Räume“ zumindest ansatzweise im Gegensatz zur Menschheit gelöst haben.

Entscheidend: Dieses galaktische Treffen wird ein „Ameisen/Mensch – Stelldichein“ sein, mit dem immensen Risiko des Einstellens der ganzen Menschheit. Wir sollten eine solche Begegnung fürchten und nicht in menschlicher Hybris suchen!

Die raren außerirdischen Ameisenforscher werden uns vielleicht und bestimmt nicht zu unserem Vorteil unter ihre Laborlupe nehmen. Die gewiss größere Gruppe der grauen Steingartenbürger unter den „Anderen“, spießbestückt, wutentbrannt und mit unverrückbarer Meinung ausgestattet - uns dann doch wesensgleich, :-) -, werden uns Ameisenmenschen dann mit dem Gartenschlauch ohne Wissen und jeder Vorwarnzeit vom Hof spülen, sollten wir ihnen in Massen querkommen. Bestenfalls eine absolute gleichgültige Haltung ohne Ausnahme ihrerseits ließe uns überleben, in einseitiger Ohnmacht, überlebend in stetiger Lebensangst vor ihren dunklen Schatten und ohne jeglichen physischen, mentalen Austausch. Schön ist anders.

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Der französische Philosoph Gabriel Marcel (1889-1973) war ein führender Vertreter des christlichen Existentialismus. Seine Schrift „Der Mensch als Problem“ aus dem Jahr 1956 hat die menschliche Unruhe und die menschliche Existenz zum Thema.

„Der Unruhige wird als solcher fast unvermeidlich misstrauisch. Gewiss misstraut er zunächst sich selbst, aber dieses Sich-selbst-Misstrauen muss unweigerlich auf die Dauer das Misstrauen gegen den Nächsten nach sich ziehen.“

Anders ausgedrückt: Diese Unruhe führt laut Marcel im Menschen zu dunklen, zu negativen Gedanken, die ihn vom Leben entfremden. Folge davon ist eine bei sich selbst spürbare Unsicherheit, verbunden mit einem daraus übertriebenen Sicherheitsbedürfnis, sowie ein Misstrauen gegenüber dem Nächsten, selbst gegenüber dem Allernächsten, u.a. im eigenen Familienhort, frei nach dem psychoanalytischen Gemeinplacet: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus.

Es gibt zahlreiche Bücher über das Thema der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Narzissmus ist zur Modediagnose geworden. Nicht nur Personen, ganze Gemeinschaften werden als narzisstisch bezeichnet. Ist man betroffen, gemeint ist hier, in Gesellschaft mit diesen Personen verbunden, bieten Psychotherapeuten Hilfe an mit dem Hinweis auf leider nur zwei Möglichkeiten, um der von den narzisstischen Menschen verursachten ungesunden Manipulation zu entfliehen, entweder sich ihnen im wahrsten Sinne des Wortes zu beugen, also in vor-moderner Wortwahl typisiert zu unterwerfen oder zweitens jeden Kontakt mit diesen Menschen einzustellen, die Schaffung größter Distanz in physischer und in emotionaler Hinsicht.

Vielleicht gibt es eine dritte Option. Gabriel Marcel zeigt es uns mit seinem christlich geprägten Hintergrund und seinem philosophisch existenzialistischen Ansatz, der Geworfenheit des auf sich allein gestellten Menschen in die Welt hinein: Karunâ! Dem Mit-Leiden, der höchsten aller Tugenden, dem sympathischen Mitempfinden am Leid oder Schicksal der Menschen und aller anderen Lebewesen - Om mani padme hum !

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Kürzlich bei einer Literaturverfilmung, musste ich an meine frühsten Leseerfahrungen zurückdenken, deren Anfänge ich sehr verschwommen wahrnahm, jedoch so erinnerungsstark wurden, dass ich meine alten Karl May Bücher hervorkramte auf der Suche nach Winnetous Sterbeszene:

„Noch immer lag der Apatsche bewegungslos. Die braven Railroaders, die sich so wacker gehalten hatten, und die Settlers mit den Ihrigen bildeten um uns stumm und tief ergriffen einen Kreis. Da endlich schlug Winnetou die Augen auf.

‚Hat mein guter Bruder noch einen Wunsch?‘ wiederholte ich.

Winnetou nickte und bat leise:

‚Mein Bruder Scharlih führe die Männer in die Gros-Ventre-Berge! Am Metsur-Fluß liegen solche Steine, wie sie suchen. Sie haben es verdient.‘

‚Was noch, Winnetou?‘

‚Mein Bruder vergesse den Apatschen nicht. Er bete für ihn zum großen, guten Manitou! – Können diese Gefangenen mit ihren wunden Gliedern klettern?‘

‚Ja‘, meinte ich, obgleich ich sah, wie die Hände und Füße der Settlers unter den schneidenden Fesseln gelitten hatten.

‚Winnetou bittet sie, ihm das Lied von der Königin des Himmels zu singen!‘

Ich trug den Männern die Bitte des Apatschen vor, und sogleich winkte der alte Hillmann. Sie erklommen einen Felsenabsatz, der zu Häupten Winnetous hervorragte, um den letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Seine Augen folgten ihnen und schlossen sich dann, als die Männer oben standen. Er ergriff meine beiden Hände und hörte nun das ‚Ave Maria‘:

 

‚Es will das Licht des Tages scheiden;

nun bricht die stille Nacht herein.

Ach könnte doch des Herzens Leiden

so wie der Tag vergangen sein!

Ich leg‘ mein Flehen dir zu Füßen;

o trag’s empor zu Gottes Thron,

und laß, Madonna, laß dich grüßen

mit des Gebetes frommen Ton:

Ave Maria!‘

 

Als nun die zweite Strophe anhob, öffneten sich langsam seine Augen und richteten sich mit mildem lächelnden Ausdruck zu den Sternen empor.

Dann zog Winnetou meine Hände an seine matt atmende Brust und flüsterte:

‚Scharlih, nicht wahr, jetzt kommen die Worte vom Sterben?

Ich konnte nicht sprechen. Ich nickte weinend, die dritte Strophe begann:

 

‚Es will das Licht des Lebens scheiden;

Nun bricht des Todes Nacht herein.

Die Seele will die Schwingen breiten;

Es muß?, es muß gestorben sein.

Madonna, ach, in deine Hände

Leg‘ ich mein letztes, heißes Flehen:

Erbitte mir ein gläubig Ende

Und dann ein selig Auferstehn!

Ave Maria!‘

 

Als der letzte Ton verklungen war, wollte Winnetou sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er:

‚Scharlih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!‘

Es ging ein Zucken und Zittern durch seinen Körper, ein Blutstrom quoll aus seinem Mund. Der Häuptling der Apatschen drückte nochmals meine Hände und streckte seine Glieder. Dann lösten sich seine Finger langsam von den meinigen – er war tot –“

Karl May, Winnetou

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Nichts beginnt zu der Zeit, zu der man es glaubt.

Ob Schule oder Universität, die Wissensgebiete sind in Lehre und Forschung getrennt, in Fächern und Fakultäten, in Natur- und Sozialwissenschaften zum Beispiel.

Spannend wird es bei den Schnittmengen, die erkennbar sind in Sätzen wie oben: „Nichts beginnt zu der Zeit, zu der man es glaubt.“ Spannend ist auch so ein Schnittmengenwort. Bezeichnet es doch die Spannung zwischen zwei Polen, zwei Enden im physikalischen Sinne. Aber auch im psychologischen Sinne wie: die angespannten Nerven, typisch die Spannung in der Kriminalliteratur, in der Filmwissenschaft.

Zurück zum Anfang: Wenn eine Liebe beginnt, beginnt sie früher als es der Anschein offenbart. (Das macht übrigens die ‚Liebe auf den ersten Blick‘ so spannend.) Wenn ein Krieg ausbricht, beginnt er früher als mit dem ersten Schuss. Wenn das Klima sich verändert, beginnen die Umweltschäden früher, nicht erst mit dem ersten Kipppunkt. Die Liste der Beispiele ist unendlich, lange bevor, nein, nachdem das Ende erreicht ist.

„Dass Federn den Vögeln beim Fliegen helfen und eine Lunge den Tieren das Leben an Land ermöglicht, ist allgemein bekannt. Solche Vorstellungen sind logisch, naheliegend und - falsch. Das wissen wir schon seit über einem Jahrhundert.

Das gar nicht so geheime Geheimnis lautet: Biologische Neuerungen entstehen nie im Laufe der großen Umwälzung, an die sie gekoppelt sind. Die Federn entstanden nicht während der Evolution der Flugfähigkeit, und ebenso wenig entwickelten sich Lunge und Gliedmaßen während des Übergangs vom Wasser zum Land. Und nicht nur das: Diese und andere große Revolutionen in der Geschichte des Lebens hätten sich auch nicht auf andere Weise abspielen können.

Große Veränderungen mussten nicht darauf warten, dass viele Erfindungen gleichzeitig stattfanden. Sie kamen vielmehr dadurch zustande, dass alte Strukturen neuen Verwendungszwecken zugeführt wurden. Innovationen haben Vorläufer, die weit in der Vergangenheit zurückreichen. Nichts beginnt zu der Zeit, zu der man es glaubt.“

Neil Shubin, Die Geschichte des Lebens: Vier Milliarden Jahre Evolution entschlüsselt

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Der Schriftsteller Jurek Becker (1937-1997) schrieb Romane (Jakob der Lügner, Amanda herzlos und weitere), Erzählungen, Filmdrehbücher (Liebling Kreuzberg) und Essays. Christine Becker, mit der Jurek Becker seit 1986 verheiratet war, gab 2018 das Buch „Am Strand von Bochum ist allerhand los“ heraus. Jurek Becker verfasste im Laufe der Jahre sehr viele Postkarten vor allem an seine Familie, aber auch an seine Freunde.

Im Vorwort heißt es, „In allererster Linie lag Jurek Becker daran, den Postkartenleser mit Minuten-Amüsements zu versorgen. Das Schreiben von Postkarten war für Jurek Becker eine Art der Verständigung, die ihm einerseits Sprachspielerei und Albernheiten erlaubte – und ihm andererseits die Möglichkeit gab, Zuwendung zu zeigen, ohne allzu viel von sich selbst preisgeben zu müssen. In Zusammenhang gebracht, erzählen Jurek Beckers Postkarten letztendlich, ob gewollt oder nicht, viel von seiner Persönlichkeit und seinem Leben, geben Auskunft über Vorlieben und Leidenschaften, ganz besonders aber über die ihm sehr eigene Art, die Liebsten aufzuheitern und sie über Trennungen hinwegzutrösten.“

So sind Jurek Beckers Mitteilungen, meist von unterwegs, als fotografische Nachbildungen (Faksimiles) der Postkartenvor- und Rückseiten und zusätzlich der Lesbarkeit halber als maschinengeschriebene beiliegende Drucke 2018 öffentlich gemacht worden - ein Unikat in dieser Form.

Hier einige Beispiele, die den Humor und den Witz des viel zu früh verstorbenen Schriftstellers Jurek Becker bereits in der Anrede erkennen lassen:

Du liebes Eisbein   Sehr geehrter Bratklops   Allahliebste Kerstin   Du alter Klettverschluss   Du alte Pudelmütze   Du alte Nebenabsprache   Du altes Gegengewicht    Du Schneller Brüter   Du heiliger Strohsack    Du rauschende Ballnacht   Du kosmische Strahlung   Du altes Sicherheitsrisiko

 

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Die schrecklichen Bilder des Terroranschlages vom 11. September 2001 nannte der Komponist Karlheinz Stockhausen damals ein Kunstwerk. Die rein ästhetische Anschauung blendete all den Schmerz, die Trauer, die Ängste aus. Abgesehen von einer individuellen Auffassung, was denn nun schön und erhaben ist, empörte es viele Menschen.

Heute wird Charles III. in London zum König gekrönt. Da damit in der Regel ein Generationenwechsel vollzogen wird, wird man selten mehrmals Zeitzeuge solch einer historischen Zeremonie.

Im Vorfeld sind viele ablehnende Äußerungen bekannt geworden: Allgemein unnötig, viel zu teuer, unzeitgemäß usw. Abgesehen davon, dass für jedes dieser Argumente ein Gegenargument benannt werden kann: Vernachlässigt bei einer Beurteilung des heutigen Ereignisses werden die emotionalen Aspekte.

Sicher, nur um ein Beispiel zu nennen, man kann auf Reisen gehen und die Befürchtung haben, die verlassene Behausung werde unbewohnt ausgeraubt werden. Bei diesem willkürlichen, aber auch bei ähnlichen Beispielen ist das Glas Wasser stets halb leer, niemals halb voll. Wenn man will, kann man jede Situation, jeden Aspekt des Lebens ohne Ausnahme negativ betrachten und sich das Leben schwer machen. Die Krönung so einer Lebensperspektive: Warum leben, wenn es mit dem Tod endet. Nur schade, da auf diese Weise der Gefühlshaushalt nur noch mit Negativ-Emotionen überflutet wird.

Die heutige royale Veranstaltung in Großbritannien wird wohl von drei Gruppierungen medial begleitet werden: Menschen, die sich an den fantastisch-märchenhaften Bildern erfreuen, die große Gruppe der Gleichgültigen und Desinteressierten - keineswegs unsympathisch, ;-). Und die letzte, die dritte Gruppe. Soziologen wissen, es sind sehr oft die Armen, die den Ärmsten helfen, nicht die Reichen. Und es sind vielfach die sogenannten gut Etablierten und eben nicht die Habenichtse, welche solche Fernsehbilder am heutigen Tag nur schwer ertragen können, beseelt von einem disharmonischen Dreiklang aus Missgunst, Empörung und Neid.

Schönheit & Schauder erregende Gefühle, nicht wie eingangs beschrieben, hier haben sie einen genehmen Platz im Fernsehsessel, besser allerdings lediglich am Katzentisch – am besten jedoch: Abschalten. Am allerbesten: Seele abschalten. Wie gesagt „Entspannt Euch!“, siehe oben Eintrag vom 2. Mai,  ;-)

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Ein interessantes Interview mit dem Vogelexperten Karl Schulze-Hagen über die Geschichte der Ornithologie gelesen – darin die Aussage, traurigstes Beispiel von Naturzerstörung, hier Vogelsterben, sei der Artentod der Wandertaube gewesen, „ … um 1865 war sie mit etwa vier Milliarden Exemplaren noch die zahlenreichste Vogelart der Welt. Innerhalb von 50 Jahren ging der Bestand auf null herunter. Ausgerottet. Das muss man erst mal hinkriegen.“

Das hat mich an das Buch „Der Wanderfalke“ von J.A.Baker erinnert, welches wiederum der Filmregisseur Werner Herzog in seiner Autobiographie „Jeder für sich und Gott gegen alle“ als die schönste Prosa, der er je gelesen habe, bezeichnet hat. Hier ein Auszug - aus dem „Wanderfalken“:

„Um von einem Wanderfalken erkannt und akzeptiert zu werden, muss man stets dieselbe Kleidung tragen, denselben Weg gehen, in seinen Bewegungen dieselbe Abfolge beibehalten. Wie alle Vögel fürchtet er das Unvorhersehbare. Am besten betritt und verlässt man jeden Tag zur selben Zeit dieselben Felder und beschwichtigt das Wilde im Falken mit Verhaltensritualen, die ebenso unveränderlich sind wie seine.

Man verbirgt den Schimmer der Augen, verhüllt das weiße Zucken der Hände, bedeckt das nackte, glänzende Gesicht und wird still wie ein Baum. Ein Wanderfalke fürchtet nichts, das klar erkennbar und weit von ihm entfernt ist. Am besten man nähert sich ihm über offenes Gelände in steter, immer gleicher Bewegung. Man lässt seine Silhouette wachsen, ohne die Konturen zu ändern. Ein Versteck nutzt man nur, wenn es perfekt ist.

Man geht allein. Auffälliges Menschentum sollte man beschränken, die feindseligen Augen der Bauerhöfe meiden. Man muss lernen, zu fürchten. Gemeinsam etwas zu fürchten, ist das stärkste Band, das es gibt. Der Jäger muss das werden, was er jagt. Das, was ist, der gegenwärtige Moment, muss die bebende Stärke des in den Baum bohrenden Pfeils haben. Gestern ist matt und monochrom. Vor einer Woche waren wir noch nicht einmal geboren. Ausharren, aushalten, folgen, sehen.“

J.A. Baker, Der Wanderfalke

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